Bei einem unserer weihnachtlichen Familientreffen brachte mein Vater plötzlich ein Lied mit, das niemand von uns Jüngeren kannte. Es war nicht schwer zu singen, hatte sogar eine sehr bewegende, ja ergreifende Melodie. Der Text hatte wenig theologische Tiefe, aber die hatte das banale „O Tannenbaum“, das wir Jahr für Jahr ein wenig widerwillig sangen und nur wegen Tante Julchen und Onkel Anton im Programm hatten, auch nicht. Das neue Lied ging so:
„Hohe Nacht der klaren Sterne /Die wie helle Zeichen steh’n /Über einer weiten Ferne /D’rüber unsre Herzen geh’n. //Hohe Nacht mit großen Feuern /Die auf allen Bergen sind / Heut’ muß sich die Erd’ erneuern /Wie ein junggeboren Kind! // Mütter, euch sind alle Feuer /Alle Sterne aufgestellt; / Mütter, tief in euren Herzen /Schlägt das Herz der weiten Welt!“
Am Anfang hatten wir Jungen uns nichts dabei gedacht, aber dann fiel der Autorenname auf: Hans Baumann, ein Dichter, von dem so unsägliche Nazi-Lieder wie „Es zittern die morschen Knochen“ stammen. „Hohe Nacht der klaren Sterne“, ein Lied, das keinen wirklichen Nazi-Inhalt hat, kannten meine Eltern aus ihrer Kinder- oder Jugendzeit, weil es in der Kinderlandverschickung gesungen wurde. Ich konnte das Heimweh nachvollziehen, das sie empfunden hatten, wenn sie das weit weg von daheim gesungen hatten – und sicher mehr als einmal weinten, wenn von den weit entfernten „Müttern“ die Rede war.
Weihnachten ist das Fest starker Gefühle – und dieses Lied löst starke Gefühle aus. Aber perfiderweise, ohne den weihnachtlichen Inhalt auch nur entfernt zu erwähnen. Es spielt mit einigen Versatzstücken, aber es gibt keine Engel, kein Gloria, kein Gotteskind, kein hochheiliges Paar, keinen Segen, keine Verkündigung, keine Hirten, keinen himmlischen Frieden, keine Gnade. Ja, es ist buchstäblich gnadenlos – und im eigentlichen Sinne heidnisch.
Heute ist es zu Recht weitgehend vergessen. Aber als Beispiel erinnerungswürdig, weil es zeigt, wie man kleine Seelen manipulieren und prägen kann. Wenn wir die anderen, schönen Lieder singen, wenn „Stille Nacht“ erklingt und „Es kommt ein Schiff geladen“, wenn wir in „Zu Bethlehem geboren“ bekennen: „In seine Lieb versenken / will ich mich ganz hinab, /mein Herz will ich ihm schenken / und alles, was ich hab“ – dann sehen wir und spüren nach, wie durch das Singen nicht nur große, irgendwie unbestimmte Gefühle geweckt werden, sondern dass der Inhalt nicht beliebig ersetzbar ist. Weihnachten ist keine schön beleuchtete warme Hülle, in die man irgendetwas hineinstecken kann. Es geht um etwas sehr Bestimmtes – in allen Liedern, die uns zum Teil aus uralten Zeiten überliefert sind. Das Singen im Kreis der Familie habe ich immer wie eine gegenseitige Verkündigung und ein Stärken im Glauben an den Menschgewordenen empfunden. Ich bin dankbar, dass mit den „richtigen“ Weihnachtsliedern, die unsere Eltern vorgesungen hatten, als wir die Texte noch nicht kannten, uns auch der Glaube überliefert wurde, dem wir die Hoffnung auf Gnade und Frieden auf Erden verdanken.
Doch, wir singen das besagte Lied immer noch, ganz am Ende, um an unsere Eltern zu erinnern und an die schwere Zeit ihrer Kindheit und Jugend. Aber vorher ist für mehr als eine Stunde das wahre Licht in den Liedern aufgeleuchtet, das keine heidnische Ideologie und keine „Hohe Nacht der klaren Sterne“ zum Verlöschen bringen oder ersetzen kann. „Heiligste Nacht! Finsternis weichet, es strahlet hienieden,lieblich und prächtig vom Himmel ein Licht; / Engel erscheinen, verkünden den Frieden, / Friede auf Erden, wer freuet sich nicht?“