Was ist eine gute Nacht? Die meisten Zeitgenossen würden wohl antworten: Wenn ich gut schlafen kann und morgens erholt aufwache. Eine Variante wacher Nachterfahrung kennt der französische Schriftsteller Guy de Maupassant (1850–1893): „Ich liebe die Nacht aus tiefster Seele, wie man seine Heimat oder Geliebte liebt, instinktiv, unbezwinglich. Ich liebe sie mit allen Sinnen, mit meinen Augen, die sie durchdringen, mit meinem Geruchssinn, der sich an ihrem Duft entzückt, mit meinem Gehör, das ihr Schweigen in sich aufnimmt, mit meinem Tastsinn, wenn die Dunkelheit meine Haut zärtlich streift.“ Solch sinnliche Widerfahrnis einer Zeit, die die allermeisten wegen Schlafens eher selten erleben, bleibt gewissermaßen den Romantikern, Exoten, Künstlern, Existenzialisten vorbehalten. Gute Nacht? Ja, aber für mich bitte ohne Träume, gar ohne Albträume und schon gar nicht im Dauerwachzustand. Morgen muss ich ja wieder arbeiten…
Dabei gibt es eine gewisse Verzauberung durch die Nacht, von der auch Maupassant ergriffen war. Was passiert nicht alles, wenn, durch die Erdrotation bedingt, an unserem Horizont die Sonne „untergeht“, das Nachtgestirn aufgeht und die kommenden Stunden licht- und farblos sind. Die Nacht wird zum Geburtshelfer besonderer Art. Sie bringt eine eigenartige Atmosphäre hervor. Sie kann betören oder Angst machen. Sie kann von der Hitze des Tages befreien oder eine schier unendliche Dauer haben. Sie kann verstören oder – wie bei Maupassant – zum Inbegriff romantischer Träumereien werden. Der Maler Vincent van Gogh schrieb 1888 an seinen Bruder Theo, er habe ein schreckliches Verlangen nach Religion. „Also gehe ich nachts hinaus und male die Sterne.“
In der Stille der Nacht gerät der (noch) wache Mensch in eine Innerlichkeit, aus der er über sich selbst hinauswachsen kann. Es findet Begegnung statt: mit der Natur, dem Kosmos, der Schönheit, mit sich selbst, mit Gott. Transzendenz. Es ist womöglich der Beginn eines Wegs, der uns im Innersten bewegt, der das Leben radikal ändert.
Rund um die Uhr Betrieb
Allerdings kippt die derart „gute Nacht“ einer aufmerksamen, partiellen Wachheit um in eine schlechte Nacht, wenn der Mensch wider Willen „wach“ ist und nicht in den Schlaf findet. Vor allem Stadtmenschen leiden daran immer mehr, wie zuletzt eine groß angelegte Untersuchung der Krankenkasse DAK-Gesundheit ergeben hat. Das Problem lautet: anhaltende Schlaflosigkeit. Seit 2010 seien Schlafstörungen bei Berufstätigen im Alter zwischen 35 und 65 Jahren um 66 Prozent angestiegen, heißt es. „Deutschland schläft schlecht“, formulierte eine Pressemeldung die bestürzende Diagnose. Der DAK-Vorstand Andreas Storm erklärte dazu mit einem hintersinnigen Wortspiel: „Die zunehmenden Schlafstörungen in der Bevölkerung sollten uns wach rütteln.“ Denn die Folgen für die Gesundheit seien erheblich. Wer schlecht oder gar nicht schläft, dessen Risiken steigen, Depressionen oder Angststörungen zu bekommen. Gar nicht zu reden von erhöhtem Herzinfarktrisiko, getrübter Urteilskraft, verminderter Reaktionsgeschwindigkeit und geringerem Leistungsvermögen sowie einem geschwächten Immunsystem. Man spricht medizinisch von sogenannten zirkadianen Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen.
Dass manch einer ein eher angespanntes Verhältnis zur Nacht hat, weil er gar nicht oder nur schlecht (ein)schlafen kann, lässt sich vielleicht auch aus der Tatsache ableiten, dass zuletzt vermehrt Presseartikel zu diesem Thema erschienen sind. Einige machen aus dieser Not eine offen zur Schau gestellte persönliche Besonderheit. Sie behaupten schlicht, sie bräuchten nicht mehr Schlaf beziehungsweise hätten einen „anderen Biorhythmus“. Für den Regensburger Schlafforscher Jürgen Zulley sind solche Aussagen (in „Psychologie heute“) allerdings nichts als Ignoranz: „Damit zu prahlen, mit wie wenig Schlaf man auskommt, weist nicht auf besondere Stärke hin.“
Stark ausgeprägt sei inzwischen, so der Wiener Schlafforscher Gerhard Klösch in der Wochenzeitung „Die Furche“, das Bedürfnis einer Gesellschaft, rund um die Uhr in Betrieb zu sein. Es geht um Dauer-Wachheit. Amerikanische Soziologen sprechen von der „24/7-Gesellschaft“, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche ständige Aktion. Das produziert chronischen Schlafmangel sowie andauerndes Müdesein. Das Leitmotiv dieser Existenzform hat Klösch so formuliert: „Was können wir tun, damit wir weniger Zeit mit Schlaf vergeuden und mehr Wachzeit gewinnen?“ Hintergrund sei ein einseitiges Verständnis, das wie in der Wirtschaft Effizienz und Ressourcenschonung obenan stellt und das sich bis in die private Welt des Sich-Erholens auswirkt – und von massivem Stress begleitet wird. Nicht selten wird dieser körperliche Erregungszustand mit Aufputschmitteln verlängert in der trügerischen Hoffnung, dass so die Leistungsfähigkeit länger erhalten bleibt.
Wer stets auf Zack ist, wenn das Handy brummt, die Nachrichten-App plingt und die E-Mails aufploppen, ist zwar immer erreichbar und auf neuestem Informationsstand. Aber dieser Dauerlauf-Lebensstil fordert seinen Tribut. Auch weil er oft gegen die eigene innere Uhr gerichtet ist: Es kommt nur noch selten zu echter Entspannung. Gemäß Gerhard Klösch haben es viele einfach verlernt, eine Auszeit zu nehmen, um sich eine Mütze Schlaf zu gönnen.
Der Bruder des Todes
Die Moderne bietet heute zwar viele Technologien an, um diesem Mangel zu begegnen. So kann man mittels Apps oder computergesteuerter Armbänder Schlafdauer, Fitness, Kalorienverbrauch und die tägliche Schrittmenge messen und vergleichen. Doch was aus Gründen der weitverbreiteten Suche nach „Selbstoptimierung“ als „hip“ gilt, kommt dem Geheimnis Schlaf kaum wirklich näher. Das Vermessen liefert noch keine Erkenntnis über eine verbesserte Schlafqualität.
Der Freiburger Psychologe Dieter Riemann kuriert Schlafstörungen mit einer therapeutischen Begleitung, die das jeweilige Verhalten der Patienten ändert. Er spricht sich – ebenfalls in der „Furche“ – zunächst für nur fünf bis sechs Stunden Schlaf- oder Ruhezeit aus, damit man tagsüber „sehr viel müder ist und dann am nächsten Abend schneller ein- und durchschläft“. Für viele Patienten sei das bereits ein Aha-Erlebnis. Außerdem solle man darauf achten, das Schlafzimmer wirklich als Ruheort zu nutzen. Das bedeute, nicht mit PC oder Smartphone ins Bett zu gehen. Das blaue Licht der Bildschirme sei ohnehin fürs Einschlafen hinderlich, weil es dem Gehirn unterschwellig einflößt, es sei Tag. Das Riemannsche Therapiekonzept wird mittlerweile europaweit mit Erfolg eingesetzt.
Außerdem gibt es viele Entspannungstechniken, die zum Ziel haben, den natürlichen Lebenszeiten-Rhythmus wiederzufinden oder ihn zu verstärken: mit autogenem Training etwa, progressiver Muskelentspannung, Yoga, Meditationsübungen… Die Liste ließe sich leicht fortführen, der Anbieter gibt es viele. Was aber bleibt, ist der Rätselcharakter des Schlafens.
Gerhard Klösch merkt an, dass der Schlaf seit jeher auch ein Zustand war, der mit Kontrollverlust einhergeht und eine „unheimliche, fremdartige Aura“ hinterlässt. In der Antike galt der Schlaf als „Bruder des Todes“. Die bildende Kunst hat immer wieder Werke hervorgebracht, die Schlafende zeigen. Das hängt damit zusammen, dass der „Herr“ es den Seinen im Schlaf gibt. Die Neurowissenschaften haben nachgewiesen, dass es bestimmte Schlafphasen gibt, in denen der Mensch – abgekoppelt vom Bewusstsein – zu den stärksten kreativen Assoziationen des Geistes fähig wird. Fixierte Hirnzellenverknüpfungen können sich auflösen, und neue, komplexere Verbindungen entstehen im elektrischen Feuern der Neuronen. „Probleme“ werden im Schlaf gelöst. Im Neuen Testament erfährt Joseph „im Traum“, dass er mit Mutter und Kind nach Ägypten ziehen soll, um das Leben Jesu zu retten. Die drei Weisen aus dem Morgenland kehren nicht zu Herodes zurück, weil es ihnen „im Traum“ geboten wird.
Zwei gute Nächte
Die Klostertradition kennt neben der „Kunst des Sterbens“ (ars moriendi) eine „Kunst des Schlafens“ (ars dormiendi). Beide hängen eng zusammen, sind Ausdruck für die Kunst des Lebens, aber auch für die Vergänglichkeit des irdischen Lebens. Darauf werden Mönche und Nonnen täglich aufmerksam gemacht: durch die Müdigkeit des Körpers. Der Schlaf wird so zum Vorausbild des Todes und im Glauben auch zum Symbol für den Übergang in ein anderes, ewiges Leben, das keinen Schlaf mehr braucht und kennt.
Die Schlafforschung, Schlaflabore und die bildgebenden Verfahren der Medizin haben den Schlaf in gewisser Weise entmythologisiert. Schlaf ist etwas körperlich absolut Notwendiges. Er gehört wie die Bewegung und die Ernährung zu den existenziellen Grundbedürfnissen des Menschen. Die gute Nacht als menschlich entspannter Erholungszustand zwischen Abend- und Morgendämmerung bleibt auch in postmoderner Perspektive erstrebenswert.
Es ist in diesem Zusammenhang beachtlich, dass Christen die Symbole Nacht und Schlaf religiös nur allzu vertraut sind. Es gibt im Jahreslauf zwei gute Nächte, die auch im Neuen Testament eine zentrale Rolle spielen für Heil, Erlösung: Weihnachten und Ostern. Die jeweiligen Liturgien ranken sich um die Lichtmetapher. Beide Feiern finden nach Einbruch der Dunkelheit statt: Christus ist das Licht der Welt, die Sonne der Gerechtigkeit. Er wird als verheißener Messias in Betlehem geboren. Die Engel singen während der Nachtwache der Hirten das Lob über den neugeborenen König: „Ehre sei Gott in der Höhe.“ Als lichtdurchwirkter Auferstandener wiederum erscheint Christus den Jüngerinnen und Jüngern nach seinem Tod am Kreuz und spricht ihnen den Frieden zu.
„Alles schläft, einsam wacht / nur das traute hochheilige Paar“, dichtete der Salzburger Pfarrer Joseph Mohr 1816 in seinem Weltweihnachtslied „Stille Nacht, heilige Nacht“. Diese Verse sind eine freie Weiterentwicklung der biblischen Geburtsgeschichte. Das Zeugnis des Lukasevangeliums spricht lediglich von der Nachtwache der Hirten. Dass die Mehrheit der Betlehemiter, ob Hirten, Wirte oder sonstige Bewohner, schläft, wird im Lukasevangelium nicht erwähnt. In dieser fremden Ecke der damals bekannten Welt erscheint jedenfalls das Licht der Welt, die Sonne der Gerechtigkeit als Kind – und wird kaum bemerkt. Also doch: Alles schläft?
Melodie im Schweigen
Der Theologe Karl Rahner hat diese Gottesoffenbarung in aller Stille einmal als existenziell notwendig beschrieben. Die biblische Botschaft sei längst kein eindeutiger Beweis, dass „Jesus selbst in der Nacht geboren wurde“. Und doch haben sich die Christen diese selige und rettende Geburt immer als ein nächtliches Ereignis vorgestellt. Das floss sogar in der deutschen Sprache in den Festnamen ein: Weih-Nacht, die geweihte Nacht schlechthin.
Laut Rahner ist diese Nacht deshalb „geweiht“, weil in ihr Gott selbst leise aus dem schrecklichen Glanz, in dem er als der Gott und Herr wohnt, herausgetreten und zu uns gekommen ist – in die Hütte unseres irdischen Daseins. „Er hat angefangen, wo wir anfangen, ganz arm, ganz gefährdet, ganz kindlich und sanft, ganz wehrlos.“ Er ist uns entgegengekommen und angekommen, „da wir sonst nicht zu ihm fänden“.
Der einsam wachende Mensch, der die heilige Stille dieser Nacht in sich hineinlässt, entdeckt in seinem Innersten eine Kammer, in die einzig Gott hineinfindet. Rahner schreibt: „Treten wir da leise ein. Schließen wir die Türe hinter uns. Lauschen wir der unsagbaren Melodie, die im Schweigen dieser Nacht ertönt. Die stille und einsame Seele singt hier dem Gott des Herzens ihr leisestes und innigstes Lied. Und sie kann vertrauen, dass er es hört. Denn dieses Lied muss den geliebten Gott nicht mehr jenseits der Sterne in jenem unzugänglichen Licht suchen, das er bewohnt und dessentwegen ihn keiner sieht. Weil Weihnachten ist, weil das Wort Fleisch wurde, darum ist Gott nahe, und das leiseste Wort in der stillsten Kammer des Herzens, das Wort der Liebe findet sein Ohr und sein Herz.“ Diese gute, heiligste Nacht fordert höchste Wachheit und Aufmerksamkeit, einen aufgeweckten Geist. „Man muss ruhig sein, die Nacht nicht fürchten, schweigen. Sonst hört man nichts. Denn das Letzte wird nur im Schweigen der Nacht gesagt.“