Vor einigen Jahren kam Johannes Röser nach einem Vortrag zu mir und sagte, es gebe eine Frage, die er gerne im Rahmen eines weihnachtlichen Artikels im CHRIST IN DER GEGENWART besprochen sehen wolle: Was ist eigentlich mit all jenen passiert, die vor Christus gelebt haben? In der Tat eine schwierige dogmatische Frage: Wenn das Leben und Sterben Jesu für uns – wie es im theologischen Jargon heißt – nicht nur heilsrelevant, sondern heilsnotwendig ist, was ist dann mit dem Heil derjenigen, deren Geburtsdatum „vor Christus“ liegt?
Dieses Problem ist einerseits nicht neu. Bereits die Kirchenväter und die Theologen des Mittelalters machten sich Gedanken darüber, was aus den großen Gestalten des Alten Bundes, etwa Abraham oder den Propheten, geworden sei. Man fragte sich auch, welches Schicksal so bedeutende Philosophen wie Platon ereilt habe, die für die Entwicklung der christlichen Glaubenslehre zentral waren und denen man zugestand, manches, was erst später offenbart werden sollte, bereits in vorchristlicher Zeit erkannt zu haben. Andererseits ist der Frage, ob man „vor Christus“ erlöstes Leben denken könne, im Laufe der Neuzeit eine Dramatik zugewachsen, die ihr in der Antike und dem Mittelalter noch nicht zu eigen war.
Rahner: Theologie in Panik
Die Verfasser der neutestamentlichen Schriften zum Beispiel gingen noch davon aus, dass der Zeitraum zwischen Adam und Jesus, zwischen Schöpfung und Erlösung der Welt, überschaubar sei. Stammbäume, die sich an verschiedenen Stellen der Bibel finden, haben die Funktion, diesen Zeitraum durch Generationenfolgen und Verwandtschaftsbeziehungen auszumessen. Die Geschlechterfolge reicht von Adam bis Sem (Gen 4,25–5,32), von Sem bis Abraham (Gen 11,10–26) und von Abraham bis Jesus (Mt 1,1–16). Gottes Schöpfungs- und sein Erlösungshandeln spielten sich damit in einem Rahmen ab, dessen Eckdaten durch die Erzähltradition Israels, in der sich auch die frühen Christen verorteten, geschichtlich zugänglich erschienen. Diese Übersichtlichkeit ist im Zuge der modernen Wissenschaftsentwicklung verloren gegangen.
Die Erde ist, so sagen Astrophysiker, nicht (wie die Bibel es ihrem wörtlichen Sinn nach beschreibt) einige tausend, sondern ungefähr viereinhalb Milliarden Jahre alt. Der Mensch hat eine lange, ihn mit allem Lebendigen verbindende Evolution hinter sich und ist trotzdem noch ein recht junges Phänomen auf diesem Planeten. In einem seiner letzten öffentlichen Vorträge bemerkte Karl Rahner, einer der bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts, zu solchen Erkenntnissen: Jedes Mal, „wenn ich irgendein Werk irgendeiner der modernen Wissenschaften aufschlage, gerate ich als Theologe in eine nicht ganz gelinde Panik. Ich weiß das allermeiste von dem, was da geschrieben steht, nicht, und ich bin sogar meistens außerstande, genauer zu verstehen, was da zu lesen ist. Und so fühle ich mich auch als Theologe irgendwie desavouiert. Die blasse Abstraktheit und Leere meiner theologischen Begriffe kommt mir erschreckend zum Bewusstsein. Ich sage: Die Welt ist von Gott geschaffen. Aber was die Welt ist, davon weiß ich fast nichts, und darum bleibt auch der Begriff der Schöpfung seltsam leer. Ich sage als Theologe: Jesus ist auch als Mensch der Herr der gesamten Schöpfung. Und dann lese ich, dass der Kosmos Milliarden von Lichtjahren sich ausdehnt, und frage mich dann erschreckt, was eigentlich der eben gesagte Satz bedeute“ („Erfahrungen eines katholischen Theologen“, in: Sämtliche Werke, Bd. 25, 54f). Rahner bringt zum Ausdruck, dass die Theologie dort, wo sie neues, außerhalb der Theologie geschöpftes Wissen zur Kenntnis nimmt, bis hin zur „Panik“ verunsichert werden kann. Diese Verunsicherung destabilisiert den Glauben in seinem überlieferten Rahmen, bietet jedoch auch die Gelegenheit, seine Vielschichtigkeit neu zu entdecken. Denn manches ist auch theologisch deutlich komplizierter, als es den Anschein haben mag.
Was genau heißt „Heil“?
Im Christentum ist oft von Heil, Erlösung und Rettung die Rede. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass theologisch weder klar ist, was diese Begriffe exakt bedeuten, noch in welchem Sinne genau Christus Heiland, Retter und Erlöser sein soll. Wo immer von Heil, Erlösung oder Rettung gesprochen wird, haben wir es mit Bildern zu tun, die derart in die kirchliche Alltagssprache eingegangen sind, dass sie nicht mehr auf den ersten Blick als Bilder erkannt werden. Das in religiösen Kontexten geläufige Wort „Heil“ zum Beispiel ist der Sphäre des Medizinischen entnommen. Der Mensch gilt dabei als krank und bedarf der heilenden Zuwendung Gottes. „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken“ (Mk 2,17). Die Rede von der „Befreiung“ deutet den Menschen als in Bindungen gefangen, die ihn von Gott fernhalten – sei es die Bindung an Besitz oder das Dasein als „Diener der Sünde“ (Röm 6,20), wovon Paulus spricht, der demgegenüber verkündet: „Zur Freiheit hat Christus uns befreit“ (Gal 5,1). Das Wort „Erlösung“ bewegt sich in einem finanziellen Bildrahmen. Der Menschensohn stirbt laut Markus, um das „Lösegeld“ (Mk 10,45) für viele zu bezahlen, um Sünden zu „vergeben“, sie also nicht länger als Schulden bestehen zu lassen. Mehrere Schriften des Neuen Testaments bemühen auch einen juristischen Kontext, um die Bedeutung Jesu zu erklären. Der Glaube an Christus lasse den Menschen vor dem göttlichen Richter als „gerecht“ erscheinen (Röm 5,1). Das Wort „Paraklet“, von dem im Johannesevangelium und in den Johannesbriefen mit Blick auf Christus, aber auch auf den Heiligen Geist die Rede ist (unter anderen Joh 14,16; 1 Joh 2,1), bezeichnet eigentlich einen Rechtsbeistand vor Gericht. In ritueller Hinsicht können sich Menschen von ihren Sünden „reinwaschen“ (Apg 22,16) lassen. Und in kultischer Sprache ausgedrückt erscheint Christus als der lebendige Opferaltar, auf dem „Sühne“ geleistet wird (Röm 3,25).
Die Unschärfe der Bilder
Kurzum: Heil, Befreiung, Erlösung, Rechtfertigung, Reinigung, Sühne – wann immer wir davon sprechen, was Menschen im Letzten von Gott gläubig erhoffen dürfen, finden wir aus der Vielfalt der biblisch geprägten Bildsprache nicht heraus (vgl. Hans-Josef Klauck, „Heil ohne Heilung? Zu Metaphorik und Hermeneutik der Rede von Sünde und Vergebung im Neuen Testament“, in: Religion und Gesellschaft im frühen Christentum. Neutestamentliche Studien, Tübingen 2003, 82–115). Versuchen wir dabei, ein Bild zu erklären, müssen wir auf ein anderes Bezug nehmen. Heil erklärt man möglicherweise mit Erlösung, Erlösung mit Befreiung und Befreiung wieder mit Heilung. Der sprachliche Bezug auf Gegenstände, wie wir ihn sonst vollziehen – ein Stuhl ist ein Stuhl, dazu bedarf es keiner großen Poesie –, misslingt dort, wo von „Heil“ oder „Erlösung“ im christlichen Sinne die Rede ist.
Diese Beobachtung ist theologisch interessant. Denn das Christentum gilt gemeinhin als Erlösungsreligion. Das heißt: Es verfolgt den Zweck, seine Gläubigen zum Heil oder in den Himmel (schon wieder ein Bild) zu führen. Was damit gemeint sein soll, bleibt aber unbestimmt. Die Mitte christlichen Glaubens und das Ziel christlichen Lebens sind eigentümlich leer oder – je nach Perspektive – übervoll: mit Bildern und Metaphern, die versuchen, etwas auszudrücken, das sich dem sprachlichen Zugriff zu entziehen droht. Diese für das Christentum konstitutive Heilsunschärfe sollte man sich bewusst halten, wann immer man von Heil und von Christus, dem Heiland, spricht.
Das ist jedoch nicht im Sinne einer Relativierung der sogenannten Heilsfrage oder der Heilsbedeutung Jesu gemeint. Christen können nicht von Gott reden, ohne von Christus zu sprechen. Heil im christlichen Sinne ist untrennbar mit Jesus verbunden. Man sollte aber nicht aus dem Blick verlieren, dass die Frage nach dem Heil des Menschen und nach der Weise, in der dieses Heil durch Christus geschenkt wird, viele Unschärfen birgt, bei denen auch jeder Theologe – mit den Worten des heiligen Augustinus – nur ehrlich sagen kann, dass er darüber lieber lernen als lehren möchte. Das wiederum darf nicht als Entschuldigung dafür dienen, sich keine Gedanken mehr zu machen.
Grob gesprochen kann man bei der Frage, worin die Heilsbedeutung Jesu Christi besteht, zwei Positionen unterscheiden: demonstrative und operative Christologien. Demonstrative Christologien legen Wert auf das, was sich in Leben, Tod und Auferstehung Christi gezeigt hat. Operative Christologien betonen stärker, was Christus als Heilswerk getan und verrichtet hat. In den meisten Christologien finden sich beide Aspekte, allerdings kann man durchaus verschiedene Schwerpunkte erkennen.
Was geschah durch Christus?
Eine vornehmlich demonstrativ ausgerichtete Christologie vertritt im deutschen Sprachraum zum Beispiel der Kölner Theologe Hans-Joachim Höhn. „Weder überbietet die Selbstvergegenwärtigung Gottes in Jesus von Nazareth seinen allen Menschen geltenden Heilswillen, noch wird diese Selbstvergegenwärtigung Gottes von einer anderen Heilsoffenbarung inhaltlich überboten. Es gibt kein ‚Mehr‘ zu einer Offenbarung Gottes im Leben, Sterben und Auferstehen eines Menschen, zu der die christliche Offenbarung nur eine Teilmenge oder Teilwahrheit bildet. Unzutreffend ist aber die Auffassung, die Zuwendung Gottes zur Welt werde durch beziehungsweise in der Person Jesu von Nazareth geschichtlich ‚vermehrt‘. Die besondere Bedeutung Jesu liegt vielmehr darin, dass in ihm die Zuwendung Gottes zur Welt, wie sie – an der Welt nicht ablesbar – verborgen seit der ‚Erschaffung‘ der Welt besteht, in der Welt offenbar wird und sich in ihr ereignet. Vom Zeugnis seines Lebens und Sterbens her glauben Christen, dass alle Menschen bereits als Geschöpfe Gottes Adressaten seiner Gemeinschaft im Leben und im Sterben sind“ („Gott, Offenbarung, Heilswege. Fundamentaltheologie“, Würzburg 2011, 330).
Im Kontext von Höhns Position ließe sich die Frage, was mit dem Heil der vor Christus Geborenen sei, eindeutig beantworten: Sie haben gegenüber den Zeitgenossen Jesu oder den Nachgeborenen keine schlechteren Karten. Gott biete, so Höhn, in Jesus von Nazareth nicht mehr an Liebe und Erbarmen für seine Schöpfung auf, als er sie bereits seit Anfang der Schöpfung gehegt habe. Das Leben, Sterben und Auferstehen Christi ist demnach nicht die Verrichtung eines Erlösung bewirkenden Werkes, das ein vorher nicht verfügbares Gut – nämlich Heil – zugänglich gemacht hätte, sondern die Offenbarung des immer schon vorhandenen und zu allen Zeiten wirksamen Heilswillens Gottes. Der einzige Vorteil, den Christen gegenüber Nichtchristen haben, könnte dann darin bestehen, dass Christen durch ihren gläubigen Blick auf Jesus von Nazareth um diesen Heilswillen, der den Geschöpfen aller Zeiten und Orte gleichermaßen gilt, wissen.
Operative Christologien gehen davon aus, dass die Heilsbedeutung Jesu darin bestehe, dass er – sei es in seiner Menschwerdung oder in seinem Kreuzestod – etwas getan habe, das zuvor nicht vorhandene Möglichkeiten erst zu erschließen vermochte: die Erlösung von der Sünde, die Rechtfertigung des Sünders, das Leeren der Hölle oder das Öffnen des Himmelstors. Theologiegeschichtlich betrachtet sind die meisten christologischen Ansätze im beschriebenen Sinne operativ. Sie bringen aus heutiger Sicht zwei Probleme mit sich, die die demonstrativen Christologien nicht haben: Erstens stellt sich die Frage nach den Heilsmöglichkeiten der Anhänger nichtchristlicher Religionen, und zweitens verdunkeln sich die Heilsaussichten der Menschen vor Christus drastisch.
Was letztere angeht, war man wiederum kreativ. Schon das antike Christentum kannte die Vorstellung einer Ecclesia ab Abel, einer bereits lange vor Christus, nämlich bei Abel, dem zweiten Sohn Adams und Evas, beginnenden Geschichte der Kirche. Abel wurde in mehrfacher Hinsicht mit Jesus in Verbindung gebracht. Abel war laut dem Buch Genesis nicht nur der erste Hirte, sondern er brachte auch das erste gottwohlgefällige Opfer dar, und er war der erste Tote, gar der erste Ermordete der Geschichte, der deshalb sterben musste, weil seine Nähe zu Gott Neid erweckte (4,1–8). In diesen Eigenschaften erblickte man den „Typos“, das Urbild Jesu, des guten Hirten, der sich selbst zum Opfer brachte und aufgrund seiner göttlichen Sendung getötet wurde. Das Zweite Vatikanische Konzil greift diese Vorstellung auf: „Zu aller Zeit und in jedem Volk nimmt Gott jeden an, der ihn fürchtet und gerecht handelt“ (Dogmatische Konstitution über die Kirche, „Lumen Gentium“, Nr. 9). Das Konzil formuliert die Hoffnung, dass einst „alle Gerechten von Adam an, von dem gerechten Abel bis zum letzten Erwählten, in der allumfassenden Kirche beim Vater versammelt werden“ (Nr. 2). Aufschlussreich ist, dass hier nicht der Glaube, sondern gerechtes Handeln und Gottesfurcht mit Heil in Verbindung gebracht werden. Die Möglichkeit, dass Gerechtigkeit auch „vor Christus“ nicht ins Leere läuft, sondern von dessen Heilswerk gleichsam rückwirkend umschlungen wird, gibt operativen Christologien trotz ihrer Probleme eine gewisse Weite.
Die Getauften und die Anderen
Jene Weitherzigkeit im Glauben an den menschgewordenen Gott zu pflegen, steht der Kirche gut an. Das Zweite Vatikanische Konzil hat dazu sogar einen noch weitergehenden Gedanken formuliert, der in seiner christologischen Bedeutung bei weitem noch nicht ausgeschöpft wurde: Christen, die ihrem Herrn durch die Taufe gleichgeworden sind im Tod, dürfen auch hoffen, mit ihm aufzuerstehen. „Das gilt nicht nur für die Christgläubigen“, fügt das Konzil an, „sondern für alle Menschen guten Willens, in deren Herzen die Gnade unsichtbar wirkt. Da nämlich Christus für alle gestorben ist und da es in Wahrheit nur eine letzte Berufung des Menschen gibt, die göttliche, müssen wir festhalten, dass der Heilige Geist allen die Möglichkeit anbietet, diesem österlichen Geheimnis in einer Gott bekannten Weise verbunden zu sein.“
Was von Ostern gesagt wird, ist mit Blick auf Weihnachten nicht weniger wahr. Nicht nur der gekreuzigte und auferstandene Christus, sondern auch der als Mariens Sohn Menschgewordene findet Wege, um allen Menschen in einer Weise verbunden zu sein, die Gott allein kennt.