Hoppenmarieken – so heißt eine der unvergesslichen, etwas unheimlichen Figuren in Theodor Fontanes erstem Roman „Vor dem Sturm“. Diese alte, gebückte Frau war stets mit Stiefeln, Kopftuch, Kiepe auf dem Rücken und mit einem „krummstabartigen Stock“ unterwegs, um im Oderbruch alle möglichen Botendienste zu verrichten, verstand sich aber auch auf Tauschgeschäfte. In meiner Kindheit begegnete ich häufig Frau Pälicke auf der Straße. Sie wohnte in unserem Viertel, schlug sich mit einer Wäsche-Annahme durch und fragte Kinder gern aus. Lautlos wie Fontanes Botengängerin konnte sie einen plötzlich beim Pilzesammeln im Wald überraschen. „Na, was gefunden, mein Junge?“ Sie kleidete sich merkwürdig und war mit ihrem Spitz bei Wind und Wetter, auch bei Schnee, in komischen Hausschuhen unterwegs.
Etwas unheimlich war meinen Geschwistern und mir zumute, wenn wir Wäschestücke bei ihr abgeben mussten. In ihrer Annahmestelle roch es nach Rauch und Zigarillos. Unsere Mutter warnte uns, „ihr etwas anzuvertrauen“. Nachdem mein Bruder wegen „Republikflucht“ festgenommen und verurteilt worden war, sprach die sonst so Neugierige kein Wort mehr mit uns, blieb aber häufig an Nachbarzäunen stehen, um sich was erzählen zu lassen. Als ich erstmals „Vor dem Sturm“, den Roman vom Losbrechen der preußischen Freiheitskriege, las, wurde ich durch Hoppenmarieken wieder an „die Pälicke“ erinnert, wie sie Fontane, gut berlinerisch, genannt hätte – und war beeindruckt, welche Wirkung der Autor bei mir hervorrief.
„Kleine Leute“ im Blick
Tatsächlich zählt der am 30. Dezember 1819 in Neuruppin geborene Theodor Fontane, Nachfahre eingewanderter Hugenotten, zu den bedeutendsten Literaten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er ist zu vergleichen mit Balzac, Dickens oder Tolstoi, Größen von Weltrang. Besser als die gefeierten Autoren seiner Epoche, Paul Heyse, Gustav Freitag, Wilhelm Rabe und selbst Theodor Storm, gelang es dem Apotheker, Journalisten, Theaterkritiker, kurzzeitigen Akademie-Sekretär und spätberufenen Romanschriftsteller, nicht nur Adel, Bürokratie und märkisches Junkertum zu beschreiben, sondern auch sogenannte kleine Leute mit zuvor nicht gekannter Präzision zu porträtieren. Andererseits führte der Realist seine Leser mitten hinein in Zeiten politisch-sozialer Umbrüche mit qualmenden Fabrikschornsteinen und Dampfwäschereien („Der Stechlin“), dem Siegeszug der Eisenbahn („Effi Briest“) sowie den Berliner Borsigwerken („Irrungen, Wirrungen“), damals größter Hersteller von Lokomotiven in Europa.
Allerdings erinnere ich mich, dass Fontane, „unser märkischer Dichter“, in meiner Polytechnischen Oberschule zwar als Barrikadenkämpfer gewürdigt wurde, aber „in der Analyse“ – so meinte die Geschichtslehrerin – meilenweit hinter einem bloß ein Jahr jüngeren Kapitalismuskritiker zurückblieb: Friedrich Engels (1820–1895). In seiner 1845 erschienenen „Lage der arbeitenden Klasse in England“ schrieb er: „Der Arbeiter ist rechtlich und faktisch Sklave der besitzenden Klasse, der Bourgeoisie.“ Weiter urteilte der pietistisch erzogene Engels in seiner auch durch christliche Sozialkritik von Charles Dickens (1812–1870) inspirierten Darstellung: „Steigt die Nachfrage nach Arbeitern, so steigen die Arbeiter im Preise; fällt sie, so fallen sie im Preise; fällt sie so sehr, dass eine Anzahl Arbeiter nicht verkäuflich sind, ‚auf Lager bleiben‘, so bleiben sie eben liegen, und da sie vom bloßen Liegen nicht leben können, so sterben sie Hungers.“
Stürmische Zeit
Dass aus Anlass des 200. Geburtstags Fontanes gleich mehrere biografische Darstellungen erschienen sind, die ihn – zwischen Barrikadenkampf, Biedermeier und Bismarck-Ära – als Schriftsteller einer Zeitenwende würdigen, ist angesichts seiner Bedeutung als Erfinder des modernen Gesellschaftsromans nicht verwunderlich. Der Berliner Literaturwissenschaftler Hans Dieter Zimmermann schreibt in seinem Werk über den Romancier Preußens: „Am 18. März 1848 breitete sich eine freudige Stimmung unter den Bürgern aus. Alles wäre bewilligt, hieß es“, aber plötzlich schlug die Stimmung ins Gegenteil um. Der ängstliche König Friedrich Wilhelm IV., der später die ihm vom Frankfurter Nationalparlament angetragene deutsche Kaiserkrone ablehnte, weil daran zu viel „plebejischer Staub“ (Friedrich Engels) klebte, ließ Militär aufziehen. Es fielen Schüsse. „Die zuvor dem König so freundlich gesinnte Menge war eine wütende, aufbegehrende Masse geworden“, so Zimmermann.
In diesem Gefühlswirrwarr zeigt sich etwas vom Charakter einer Zeit voller Paradoxien, Widersprüche und Zweifel. Der bereits als Journalist arbeitende „Apotheker erster Klasse“ Fontane schloss sich der revoltierenden Volksmenge an, erbeutete einen verrosteten Theaterkarabiner und wollte damit eine Barrikade verteidigen. „Heldentum ist eine wundervolle Sache“, zitiert Zimmermann seinen Protagonisten mit dem autobiografischen Rückblick „Von Zwanzig bis Dreißig“: „Und zur Echtheit, auch in diesen Dingen, gehört Sinn und Verstand. Kleinlaut zog ich mich von der Straße zurück.“
Zimmermanns Biografie ist in „Lehrjahre“, „Wanderjahre“ und „Meisterjahre“ gegliedert und schlägt mit Understatement und Berliner Witz einen Ton an, der seinem Helden entspricht, wenn der Autor auf ein wahres Schreibwunder aufmerksam macht: dass der gesundheitlich angeschlagene Schriftsteller überhaupt erst mit 59 Jahren damit begann, seine Romane zu publizieren: „Vor dem Sturm“ von 1878 folgten bis zum „Stechlin“ 1897 sechzehn weitere. Wer sich eingehend mit Fontanes großen Werken auseinandersetzen möchte, kommt bei Zimmermann auf seine Kosten. „Das erste Kapitel ‚Heiligabend‘“, erklärt er über den Erstling, „liest sich nicht wie das Kapitel eines Anfängers, es ist kunstvoll gebaut vom Aufbruch in Berlin bis zur Ankunft in der Halle der Väter. Fontane führt in die Zeit ein, das Jahr 1812, in die Jahreszeit, Winter und Weihnachten, und in die Örtlichkeiten Berlin und Oderbruch.“
Die in der Schweiz lehrende Germanistin Regina Dieterle hat für ihre Darstellung zehn Jahre lang recherchiert, um auf der Grundlage aller verfügbaren Dokumente und Lebenszeugnisse ein neues Fontane-Bild zu zeichnen. In dreizehn Kapiteln geht es ihr darum, Leben und Werk auf zukünftig gültige Weise in einer Großbiografie zu beschreiben. „Vor dem Sturm“ gewinnt dabei zentrale Bedeutung. Denn die Nachricht, dass die Grande Armée während des Russlandfeldzugs 1812 vernichtend geschlagen worden sei, wurde für die preußische Bevölkerung, nicht zuletzt für die Eltern des Schriftstellers, Emilie Labry und Louis Henri Fontane, zum Signal, sich Napoleon entgegenzustellen. Das löste die von Fontane beschriebenen Befreiungskriege aus und beendete die französische Vorherrschaft in Europa. Der Sohn berichtete später: „Mein Vater erhielt eine (französische) Kugel in den Tornister, die, nach Durchbohrung eines kleinen Wäschevorrats, in den Pergamentblättern einer dicken Brieftasche stecken blieb. Diese Brieftasche, mit der Kugel drin, hab ich mir oft zeigen lassen.“
Plötzlich bei der „Reaktion“
Dass der angehende Schriftsteller inmitten großer ökonomisch-kulturell-sozialer Umbrüche lebte, zeigt sich – so Regina Dieterle – auch anhand seiner Schwächen. Seit 1850 mit seiner langjährigen Verlobten Emilie Rouanet-Kummer (1824–1902) verheiratet, hatte der in prekären Lebensverhältnissen lebende Familienvater hauptsächlich an die Beschaffung des Existenzminimums zu denken. Opportunistisch schlug er sich daher auf die Seite der in der Achtundvierziger-Revolution bekämpften „Reaktion“ und wurde Redakteur der „Kreuzzeitung“, die mit dem Slogan „Vorwärts mit Gott für König und Vaterland!“ Stimmung für Königstreue und Volksfrömmigkeit machte. „Dass er sein Brot nun im Wesentlichen bei der ‚Kreuzzeitung‘ verdiente, bereitete ihm keinerlei Kopfzerbrechen …, doch verstand er, dass seine liberal denkenden Dichterfreunde Storm, Heyse und Wolfsohn die Stirne runzelten und den Kopf schüttelten.“
Kenntnisreich und mit Empathie schildert die Biografin Fontanes Leben und Schreiben. Dabei lässt sie seinen Antisemitismus nicht unerwähnt, verzichtet aber auf jede Form von Skandalisierung. Sie würdigt den Dichter, der als Korrespondent in London lebte, als Hugenotte mit dem Französischen vertraut war und die russische Literatur (Tolstoi) liebte, überzeugend als einen Literaten von europäischem Format.
Auf andere, nicht weniger emphatische Weise beeindruckt Christine von Brühl insbesondere ihre Leserinnen, indem sie sich ganz auf Fontanes Frauen konzentriert. Die mit preußischen Frauengestalten („Die Frauen der Hohenzollern“) vertraute Historikerin und Slawistin stellt überzeugend dar, dass Fontanes Bücher nicht nur bevorzugt von Frauen gelesen wurden, sondern dass sie vor allem als Romane über Frauen – etwa „Cécile“, „Grete Minde“, „L’Adultera“, „Frau Jenny Treibel“, „Stine“, „Mathilde Möhring“ und natürlich „Effi Briest“ – zu lesen sind.
Fontanes Frauen
Aber woher bezog Fontane seine Informationen über das weibliche Geschlecht, „beschritt er doch bei der Beschreibung von Frauen ein Terrain, das einem Mann des neunzehnten Jahrhunderts größtenteils verschlossen blieb“? Sicher aus dem Dialog mit seiner späteren Ehefrau Emilie Rouanet-Kummer, in die er sich bereits als Jugendlicher verliebt hatte, mit der er sich im Alter von 26 Jahren verlobte und die er fünf Jahre später heiratete. Trotz mancher Spannungen, so Christine von Brühl, sei Emilie lebenslang Fontanes erste Kritikerin, einfühlsame Leserin und entscheidende Korrektorin gewesen.
Über Fontanes Mutter, Emilie Labry, die sich 1850 von ihrem Ehemann trennte, ist dagegen wenig bekannt. Eine außerordentliche Rolle für den Romancier spielte – neben der Verbindung zu den beiden Schwestern Jenny und Elisabeth – seine einzige Tochter Martha, genannt Mete. „An den Beziehungen zu den Frauen, mit denen Fontane verwandt war oder die ihn unmittelbar umgaben, lässt sich leicht erkennen, woher sein Interesse an weiblichen Schicksalen rührte. Er führte mit diesen Frauen ausführliche Gespräche oder Korrespondenzen, sie tauschten sich offen mit ihm aus und ließen ihn unbekümmert an ihrem Leben teilhaben.“
Mit Bedacht wählte Christine von Brühl Überschriften wie „Die Familienseelsorgerin“. Sie porträtiert die stets hilfreiche Freundin Henriette von Merckel oder „Vaters Liebling“ und beschreibt darin Metes Bedeutung. In einem Kapitel mit dem Titel „Die Brandstifterin“ gelangt die Autorin in einer literarisch-historischen Spurensuche außerdem zu einem „Freispruch“ für die hingerichtete Margarethe von Minden. Sie zeigt – etwa im Gegensatz zu Zimmermanns Kritik, der von einem „überbewerteten Text“ spricht –, dass es sich bei „Grete Minde“ um eine äußerst gelungene Novelle handelt und wie es Fontanes Juristen-Freund Parisius gelang, die vermeintliche Brandstifterin zwei Jahrhunderte nach deren Verurteilung zu rehabilitieren – was am Schauplatz Tangermünde bis zum heutigen Tag mit Theater- und Opernaufführungen gefeiert wird.
Des weiteren sind die Biografien von Hans Dieter Rutsch sowie Günther Rüther zu nennen. Rutsch liefert Nahaufnahmen, die eine Brücke von Fontanes Zeit in die Gegenwart schlagen. So besucht der Dramaturg, Autor und Dokumentarfilmer unter anderem das noch aus der Kaiserzeit stammende Fontane-Denkmal in Neuruppin und stellt fest: Fontane „war dabei, als die Deutschen 1871 ihre Nation gründeten… Ihn selbst betraf die damalige Zerrissenheit der Deutschen auf der Suche nach einer Ahnung von Vaterland.“
Der Bonner Politologe Rüther gibt seinen Lesern dagegen eine reich bebilderte Lebensbeschreibung an die Hand, die mit geografischen Hinweisen und Vorschlägen für eigene „Wanderungen durch die Mark“ aufwartet und präzise Angaben für einen Stadtrundgang durch „Fontanes Berlin“ und seine derzeit mit einer „Leitausstellung“ aufwartende brandenburgische Geburtsstadt Neuruppin enthält.
Um 1893 ging Fontane „mit seinem Körper offensichtlich ein Bündnis ein, das etwa gelautet haben muss: Mein Roman ‚Der Stechlin‘ steht mir bitte noch zu“, erläutert Rutsch die Arbeit des Dichters an seinem Alterswerk. „Tatsächlich halten sich beide Partner an diese Verabredung. Konzentriert und selbstbewusst schreibt sich Fontane diesen Roman ab Januar 1895 als Vermächtnis aus seiner Seele heraus.“ Insgesamt besteht in der Fontane-Forschung Einigkeit darüber, dass dieses Buch den Höhepunkt eines ungeheuer reichen Schaffens markiert. „Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben“, fasst Gräfin Melusine die Überzeugung des Dubslav von Stechlin zusammen, der selbstironisch-würdevoll versucht, mit den wissenschaftlich-technischen, wirtschaftlichen und politisch-sozialen Widersprüchen der Moderne klarzukommen. Deshalb gibt er zu bedenken: „Der Teufel ist nicht schwarz, wie er gemalt wird.“
„Ganz gut, aber katholisch“
Und wie hielt es der Schriftsteller mit der Religion? Als Gegenspielerin, die mit der „milden Observanz“ ihres Halbbruders keineswegs einverstanden ist, tritt im Alterswerk die Stiftsdame Adelheid auf. Wenn sie schon bei dem alten Stechlin nichts erreichen kann, will sie wenigstens ihren Neffen Woldemar vor einer jugendlichen Verrücktheit bewahren, zu der sie ganz entschieden eine katholische Heirat zählt: „Da sind zum Beispiel die rheinischen jungen Damen, also die von Köln und Aachen; nun ja, die mögen ganz gut sein, aber sie sind katholisch, und wenn sie nicht katholisch sind, dann sind sie was anderes.“
Fontane war kein strenggläubiger Mensch, interessierte sich jedoch für außergewöhnliche Spielarten des Christentums wie Grönlandmissionare („Vor dem Sturm“) und Mennoniten („Graf Petöfy“). Zwar war er seiner hugenottischen Herkunft nach Mitglied der reformierten Gemeinde, beschrieb in seinen Romanen aber mit Vorliebe lebenskluge, undogmatische und fromme evangelische Dorfpfarrer. Die preußische Staatskirche dagegen lehnte er ab, wenn es ihr um bloßes Repräsentieren ging. Dem katholischen Glauben näherte er sich mit Offenheit und Respekt, gelegentlich sogar mit Sympathie.
Um auf meine Kindheit zurückzukommen: „Milde Observanz“ war eher nicht Frau Pälickes Sache. Sie suchte die Nähe der Macht. Anders als Fontanes Hoppenmarieken, die regelmäßig am Gottesdienst teilnahm, sah man Frau P. niemals in einer Kirche. Aber in einer Karwoche erzählte sie mir, dass sie bald wieder nach Westberlin fahren müsse, um Heringe für Karfreitag einzukaufen. Das fand ich komisch. Aber vielleicht wollte sie damit sagen: Ich weiß, wie ihr Katholiken lebt. Sicher las sie niemals Fontane. Für mich sind seine Bücher heute auch eine Erinnerung daran, dass unsere Zeitenwende damals schon vor der Tür stand.