Reden – nicht Gerede

Unter allen Formen der öffentlichen Kommunikation scheint mir das Vorlesen einer Rede die seltsamste zu sein.“ Denn „eine geschriebene Rede ist“, so Navid Kermani, „schon im Wortsinn ein Paradox“ und „in der Sache erst recht“. Denn anders als die „sogenannte freie Rede“, die es erlaube, „auf das Unverständnis, den Zuspruch, die Überraschung, die Langeweile, den Unmut“ der Zuhörer zu reagieren, imitiere die geschriebene Rede nur den Akt der Rede, da der Redner nur „scheinbar spontan“ das sage, was „er sich vorher Wort für Wort“ überlegt hat. Der Verlust des damit verbundenen situativen Zusammenspiels zwischen Publikum und Redner bietet allerdings, so der Schriftsteller, den Vorteil, dass es zu einer „Literarisierung“ des Gesagten führe, in der „kein Wort unbedacht fällt“. Die in dem Band zusammengetragenen Reden des Orientalisten und bekennenden Muslims gehören alle zu dieser Gattung von Reden, die weniger Reden, denn „Texte“ sind, die zwischen 1999 und 2019 „öffentlich vorgetragen“ wurden. Und für die gilt, was nach Kermani die höchste Kunst einer öffentlichen Rede ist: „im Namen von vielen zu sprechen, aber so wie es nur ein einzelner Mensch sagen kann“.

Eben weil es den zusammengetragenen Reden gelingt, diesen paradoxen Anspruch einzulösen, weisen sie immer wieder über den konkreten Anlass hinaus und werden auf diese Weise bleibend lesenswert. Das gilt für die erste und älteste Rede, eine Laudatio auf den iranischen Schriftstellerverband von 1999, wie für den letzten Text des Bandes, den „Epilog über meinen Buchhändler Ömer Özerturgut“. Obgleich sich die Hoffnungen auf einen Reformprozess im Iran, den die erste Rede 1999 beflügelte, längst zerschlagen haben, bleiben die darin enthaltenen Reflexionen über Aufgabe und Stellenwert von Literatur und Schriftstellern in der Gesellschaft von zeitloser Aktualität.

Zu den eindrucksvollsten Beiträgen zählt die Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2015. Vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs in Syrien schildert Kermani in der Gestalt des katholischen Paters Paolo zugleich die versöhnende Kraft von Religion, in der Auseinandersetzung mit dem Islamischen Staat zugleich deren zerstörerisches Potenzial. Kermanis eigener Glaube, der sich an dieser Stelle in seinem Mut zeigt, am Ende seiner Ausführungen seine Zuhörer aufzufordern, sich anstelle eines Applauses zu erheben und für die Christen in Syrien zu beten, zählt dabei zu den roten Fäden, die sich durch die Texte ziehen.

Am Ende ist es vielleicht nicht das Schlechteste, was über Reden gesagt werden kann: dass es noch dem Leser ergeht wie dem Zuhörer und er von den darin formulierten Worten mal zum eigenen Nachdenken herausgefordert, mal zum Schmunzeln gebracht oder zu Tränen gerührt wird. Mit dem Vorteil, dass er sie noch einmal lesen kann.

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