Katholische ReformdebatteDie Kirche lieben?

Die Zeiten sind nicht günstig für die Treue zum Christentum und für dessen Erneuerung und Weiterentwicklung. Gerade deshalb tut eine grundlegende Erinnerung und Gewissenserforschung not.

Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst. Also soll ich – so hat es die neuere Theologie zusammen mit Psychologie und Anthropologie wieder ins Bewusstsein geholt – mich selber lieben. Wir sind Kirche, als Getaufte. Ich bin Kirche. Also müsste ich gemäß jener Logik mich und uns lieben, die Gemeinschaft der Getauften, die Versammlung – Ekklesia – der Christen, Kirche genannt. Warum aber fällt es uns so schwer, uns selbst und damit uns als Kirche zu lieben?

Die Fakten liegen auf der Hand, nun, da seit Monaten, Jahren am laufenden Band schreckliche Verbrechen geistig-geistlichen wie sexuellen Missbrauchs durch Amtsträger aufgedeckt werden. Von „Tätern“ ist die Rede. Wie immer man auch die psychischen Umstände, die sie trieben, erklären und beschreiben mag: Es sind nicht einfach nur Täter, es sind – mit klaren Worten – Verbrecher. Und mit Verbrechern ist so umzugehen, wie es gemäß der Rechtsordnung eines Rechtsstaates vorgesehen ist: mit entsprechenden Strafen, aber auch mit der notwendigen Menschlichkeit und Barmherzigkeit. Denn auch der Verbrecher ist ein Mensch, nach biblischem Befund und Glauben ein – auch wenn es schwerfällt, das zu sagen – gottebenbildliches Geschöpf Gottes.

In der anhaltenden Welle der Aufklärung, Beschuldigungen und Verdächtigungen scheint das mediale Publikum jedoch aus den Augen zu verlieren, dass nur die wenigsten, die in der Kirche und für die Kirche ihren seelsorglichen Dienst tun, derart schwerwiegende Sünde auf sich geladen haben. In der verständlichen Empörung, die manchmal allerdings bloß der Unterhaltungskultur geschuldet ist, wird vergessen, dass nicht jene Schuldiggewordenen allein, sondern dass wir alle als Getaufte Kirche sind. Und dass fast alle Seelsorgenden sich wahrhaftig um das Heil der Menschen sorgen und kümmern als Diener und Dienerinnen Gottes im besten Sinne des Wortes. Diese vielen anständigen Leute im kirchlichen Dienst sind selber aufs Schwerste geschockt von dem, was einzelne Beruf(ung)skollegen (und -kolleginnen) – wenn auch in unfassbarer Größenordnung – begangen haben. Die Gottesdiener und Gottesdienerinnen sind in überwältigender Mehrheit aufrecht und treu. Zusammen mit uns sind sie – man kann es nicht oft genug gerade in Zeiten des wiederentdeckten „Basischristentums“ sagen – Kirche.

German Selbstzerfleischung

Es ist also unser aller religiöses Dasein, das momentan wie in Scherben daliegt, verachtet und verächtlich gemacht vor der Welt, aber auch von der Welt. Es ist unser aller Glaube an Jesus Christus, unsere Hoffnung auf das Reich Gottes im Hier und im Jenseits, die blank dastehen, verloren, verunsichert, beschädigt. So stellt sich für viele Getaufte die Frage, was uns dieser Glaube, diese Hoffnung dennoch wert sind – und wie wir nach dieser schrecklichen Stunde der Gewissensprüfung vielleicht doch den Schatz wiederentdecken, der in der Kirche liegt, in ihrer Überlieferung und ständigen Weiterentwicklung, ja Reform des religiösen Geistes. Auch in historisch schwierigsten Zeiten, die oftmals weitaus schwieriger waren als unsere, gaben unsere Vorfahren diesen Schatz in den zerbrechlichen irdischen Gefäßen nicht preis. Daher haben wir ihn noch heute.

Doch auch das muss man sagen: Aufgrund der weltumspannenden medialen Nachrichtengebung im Sekundentakt hat sich eine gewisse Hysterisierung breitgemacht, die dazu verleitet, den Blick auf die Realitäten zu verlieren. Als ob überall nur die ewigen Verderber am Werk seien. Die Deutschen scheinen besonders zur Hysterie zu neigen, verbunden mit der sprichwörtlichen German Angst, die häufig selbst bei kleinsten Irritationen apokalyptische Ausmaße annimmt, jedenfalls wenn man die veröffentlichten und in Talkshows vorgetragenen Hauptmeinungsströme zugrunde legt. Wo sind in solchen Zeiten die Umsichtigen, Besonnenen, auch im Kirchenleben?

Hinzu kommt eine ebenfalls typisch deutsche Lust an der Selbstdemontage. Wir machen uns gern selber schlecht, als Kultur, als Nation, als Volk. Andere Kulturen, Nationen und Völker schütteln darüber nur staunend den Kopf. Hurra, wir kapitulieren! So wird momentan die hervorragende deutsche Autoindustrie niedergemacht, während bei weitaus schrecklicherer Luftverpestung in Prag, Rom, Paris, Barcelona, London, Athen, Rio, Kairo, Moskau, Peking sich keine Umwelthilfe und niemand sonst mit Klagen gegen die wachsende Mobilität und Freiheit einer Gesellschaft wehren würde – zumal die Lebenserwartung der Menschen seit Jahrzehnten aller Umweltvergiftung zum Trotz unaufhörlich steigt. Warum nur mussten einst die Menschen in weitaus saubererer Luft so früh sterben? Ist das nicht ungerecht?

Die Selbstdemontage, ja Selbstzerfleischung, bei manchen fast schon masochistisch genüsslich, hat sich nun auf die Kirche übertragen. Als ob alles schlecht sei, worauf unsere Ahnen ihre große Hoffnung, ihr Vertrauen setzten. Wer wagt es eigentlich noch, seinen Kindern von der großen Liebe zu erzählen, die Generationen zuvor mit Christus und seiner frohen Botschaft verbunden haben? In vielen Bereichen überwiegt die Kritik. Natürlich nicht unberechtigt. Außerdem ist es die vornehmste Aufgabe des Journalismus, Schwächen, Verfehlungen, Sünden aufzudecken. Das Gute, Wahre und Schöne ist demgegenüber langweilig. Es taugt nicht dazu, die Sensationsgier zu befriedigen. Daher verkommt das Beste leider oftmals zur Routine. Dabei wäre die Kirchen„routine“, etwa die rege Teilnahme an der sonntäglichen Feier der Auferstehung Jesu Christi, die beste Therapie, um sich in eine gesunde Wiederholung und Verdichtung dessen einzuüben, was der Grund, der Sinn, das Ziel des Daseins ist – jedenfalls für jene, die ihre Existenz auf die biblische Nachfolge ausrichten.

Die Eltern – unsere PriesterInnen

Ohne die Kirche, die schon unsere Eltern und Großeltern waren und sind, wären wir nicht in diesen Glauben gekommen. Wir haben ihn uns zwar im Lauf des Erwachsenwerdens durch viele Zweifel – die nach wie vor nicht ausgeräumt sind – hindurch aneignen müssen. Aber es brauchte den Kristallisationskern, ohne den wir nicht Christen geworden wären. Von nichts kommt nichts. An unserem Anfang aber war die Kirche in Gestalt des Glaubenslebens unserer Eltern, von Mutter und Vater als erste Priesterin und erster Priester, durch die wir in jene geistige und sichtbare Gemeinschaft hineingewachsen sind. Das geschah nicht durch Theorie, sondern durch Praxis, durch tätige Teilhabe an der Liturgie, am Beten, am Bibellesen, am Essen und Trinken, an der Gemeinschaft, am Sein, am Feiern und Sich-Freuen, durch Lesen und Sich-Bilden – auch im Religiösen. So wie man Schwimmen nicht lernt durch Trockenübungen, sondern indem man ins Wasser steigt. Das Wasser der Taufe und das Brot des Lebens wie der Kelch des Heils – kurzum: die Prozesse kontinuierlicher sakramentaler Teilhabe – waren und sind es, die uns am Leben halten, am geistig-geistlichen Leben.

Die Ehe ist Ehe und bleibt Ehe

Wir lieben unsere Eltern, hoffentlich. So lieben wir auch jene als Kirche, durch die wir nicht nur in die Kirche, sondern – hoffentlich – in unser Lebensglück kamen. Wir lieben unsere Kinder und Enkelkinder. Wir lieben sie in erster Linie dadurch, dass wir ihnen weiterzugeben versuchen, was uns selber Sinn und Ziel, Glaube und Hoffnung ist im Endlichen ins Unendliche hinein. Also lieben wir das, was Kirche konstituiert. Denn sie entsteht ständig neu durch jene, die glauben, hoffen und lieben im Geist Jesu Christi. Wir machen die Kirche nicht, aber sie ist auch nicht einfach da, ohne gemacht zu werden und ohne zu machen. Der Geist ist es, der lebendig macht – auch die Kirche. Der Geist im Geist Jesu Christi, in seiner Nachfolge, schafft Leben.

Den Urimpuls dazu hat Christus selber gesetzt, wie es im Epheserbrief in einem Atemzug mit berührender menschlich-intimer Erdung heißt: „Ihr Männer, liebt eure Frauen, wie auch Christus die Kirche geliebt und sich für sie hingegeben hat.“ In der Partnerschaft, in der Ehe sind wir also Kirche, Kirche in dichtester, Christus nächster Weise. Daher können und dürfen alle verständlichen Forderungen nach einer Erneuerung der Sexualmoral nicht darauf hinauslaufen, die Ehe zu relativieren. Die Einehe – auf Lebenszeit – ist gemäß der Rede Jesu und der Erfahrung der Menschheit das bevorzugte Realsymbol für die Nähe, Fruchtbarkeit und Erfüllung der Verheißungen Gottes in der Nähe und Fruchtbarkeit des Sexuellen. Daran kann auch „die“ Kirche keine Abstriche machen. Die lebenslange Einehe ist gut für den Menschen, in ihrer Stabilität das Beste ebenso für die seelische Stabilität und die geistige Entwicklung der Kinder. Die „Anpassung“ der kirchlichen Sexualmoral hat ihr Maß an der biblischen Sexualmoral Jesu Christi. Im Übrigen werden Änderungen der Lehre nicht jene in die Kirche zurückbringen oder in ihr halten, die sich schon längst gar nicht mehr dafür interessieren und den christlichen Glauben aufgegeben haben. Zudem ist die Lage der evangelischen Kirchen, die auf dem Feld der Individualmoral faktisch alles einer totalen Liberalisierung preisgegeben haben, um dafür umso stärker die Menschen mit sozialmoralischen Forderungen und Appellen zu drangsalieren, erheblich schlechter als die der katholischen Kirche.

Glauben ist nicht Moral, aber...

Über allem wäre jedoch neu zu justieren: Glauben ist nicht Moral. Glauben geht in Moral nicht auf, wobei er diese gemäß der „autonomen Moral“ des verstorbenen Tübinger Moraltheologen Alfons Auer allerdings inspirieren, stimulieren, verstärken kann. Wer glaubt, soll nicht sündigen. Aber auch wer glaubt, sündigt. Daher gibt es in gewissen kirchlichen Traditionen die Buße als Sakrament, als ein Zeichen und befreiendes Werkzeug des Heils und der Versöhnung. Es richtet den gebrochenen, stets schwachen Menschen nach Reue, Bekenntnis und gutem Vorsatz wieder auf. So weit weg von der allgemeinen psychologischen Weisheit des Lebens ist diese Weisheit der Kirche also nicht. Im Gegenteil: Der Jesus, der die Kranken dadurch heilt, dass er ihnen zuerst die Sünden vergibt, hat da offenbar mehr Weisheit bewiesen als jene, die einen individuellen wie gesellschaftlichen Unschuldswahn hegen und propagieren. Dank der Kirche – freilich nicht nur allein wegen ihr – wissen wir um die strukturelle Sündenverfallenheit unseres individuellen wie kollektiven Daseins, aber auch um die Rettung und Befreiung aus dieser Verstrickung der Existenz, um Vergebung und Versöhnung.

Für die Freiheit hat uns Christus frei gemacht. Diesen Satz des Paulus oder eines seiner Schüler aus dem Galaterbrief kann man nicht oft genug in Erinnerung rufen. Gerade in dieser Zeit einer großen Bedrängnis der Kirchen, besonders akut der katholischen Kirche, wäre jene Erfahrung als Hoffnung wieder ins Bewusstsein zu bringen. Solche Freiheit und Erneuerung der Freiheit im Geist Jesu Christi verdanken wir der Überlieferung durch die Kirche, der Tradition, die wortwörtlich bedeutet: weitertragen ins Neue und für Neues. Ohne Kirche wären wir nicht, was wir als Kirche sind. Dank sei Gott, Dank sei Christus für das weltlich Ding Kirche mit ihrer Vermittlung von Heil mitten im Unheil. Wir sind Kirche! Können, wollen wir die Kirche lieben? Ja! Wegen der Freude an Christus und der Hoffnung auf Gott.

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