Mitten in der Debatte über sexuellen Kindesmissbrauch durch Seelsorger ist ein Buch über den spirituellen, den geistlichen Missbrauch erschienen. Die Verfasserin, Doris Wagner (verheiratete Reisinger), hat einst als Ordensfrau beiderlei Arten des Missbrauchs erlebt. Sie nähert sich dem Phänomen des spirituellen Missbrauchs zunächst eher allgemein, beginnend mit einer umfassenden Begriffsklärung von Spiritualität. Für sie ist sie all das, was den Menschen in seinen Sinnzusammenhängen ausmacht und nicht einfach empirisch belegbar ist. In diesem Bereich – so eine Kernaussage – muss jeder Mensch selbstbestimmt und eigenverantwortlich handlungsfähig sein. Was das genau bedeutet, wo die Selbstbestimmung zur Grenzziehung auffordert, wo und wie es dabei zu Überschreitungen kommen kann, all das wird ausführlich dargelegt.
Den anfangs lehrbuchhaften Charakter verliert das Buch im Mittelteil. Anhand verschiedener Beispiele, die vorwiegend aus dem Umfeld (neuer) geistlicher Bewegungen oder von Priesterseminaren stammen, werden Missbrauchssituationen, wird Missbrauchserfahrung durchbuchstabiert: Drangsalierung und Demütigungen. Dazu gehört die Einschränkung persönlicher Privatheit bis dahin, dass einer Novizin verboten wird, ihre Klavierstücke zu spielen, und ihr daher die Notenblätter weggenommen werden. Oder dass einem Ordensbruder auf Geheiß des Beichtvaters der von der Schwester gestrickte Schal, ein Erinnerungsstück an die Familie, in den Müll geworfen wird. So hat Missbrauch ein schrecklich alltägliches Gesicht. Die Beispiele entstammen der Mitte katholischer Glaubenspraxis. Die Verfasserin ordnet sie in drei Gruppen: spirituelle Vernachlässigung, Manipulation und Gewalt. In ihrer erdrückenden Vielfalt bilden die geschilderten Fälle Typen katholischen Glaubenslebens von innen her ab. Dabei wird allmählich klar, was mit spirituellem Missbrauch gemeint ist, was ihn so schwer fassbar und gleichzeitig so wirksam macht. Die katholische Glaubenspraxis hat identitätsstiftend ein strukturelles Umfeld erzeugt, in dem bestimmte, auch schädliche Haltungen und Handlungen nicht nur geduldet, sondern sogar zu einem besonders tiefen Glaubenssinn geadelt werden. Das betrifft keineswegs nur einzelne sehr konservativ oder traditionell eingestellte Gruppierungen, sondern den Glaubensalltag in ganz unterschiedlichen kirchlichen Bereichen. Dargestellt werden gar nicht so sehr dramatische oder spektakuläre Fälle. Die Beispiele berühren vielmehr deshalb so sehr, weil glaubhaft alltägliche Gemeinheiten und willkürliche Erniedrigungen dokumentiert werden. So wird das undurchsichtige Machtgefüge beschrieben, in dem sich die spirituell Abhängigen befinden.
Freies Gewissen – Gehorsam
Die Autorin Doris Wagner weitet darüber hinaus den Blick für systemische Grundlagen des Missbrauchs innerhalb der katholischen Kirche, die allerdings – zu ihrem eigenen Bedauern – nur angerissen werden können. Sie dokumentiert zwei in sich unvereinbare Traditionsstränge der Kirche: Einerseits war das Eintreten für das freie Gewissen eines jeden Gläubigen immer ein Schutz vor Missbrauch und eine Quelle kreativer Erneuerung der Kirche. Damit aber kollidiert andererseits der Anspruch des kirchenleitenden Lehramts auf unbedingten Gehorsam. Diese Spannung belegt die Verfasserin mit widersprüchlichen Textpassagen des Kirchenrechts. Abgerundet werden die Überlegungen mit Empfehlungen für Missbrauchsopfer und deren Umfeld. Dem vorgeschlagenen Vorgehen ist auch aus ärztlicher Sicht ohne Einschränkung zuzustimmen. Dem Leser stellen sich solche Fragen: Wo bin ich im kirchlichen Kontext schon missbräuchlichen Kommunikationsformen begegnet? Wo habe ich sie als normal empfunden? Bin ich selber Teil des Systems – und falls ja, auf welcher Seite? Solche Fragen können schmerzhafte Erinnerungen wecken.
Spiritualität betrifft einen zentralen Aspekt des Lebens, vergleichbar dem der Sexualität. Allerdings greifen beim geistlichen Missbrauch – das ist der große Unterschied – die grundsätzlich klaren Abgrenzungen nicht, die hinsichtlich körperlicher Gewalt oder sexueller Übergriffe im Bewusstsein verankert sind. Die entschiedene Vorgabe eines „Bis dahin und nicht weiter“ muss im Bereich des Glaubens erst bewusstgemacht und erarbeitet werden.
Die strukturellen Vorschläge des Buchs bleiben eher vage. Das vor allem macht den beklemmenden Nachgeschmack aus: Wirklich tiefgreifende Veränderungen wären zur Verringerung des Risikos erforderlich. Denn spiritueller Missbrauch wird wesentlich durch intransparente und nicht kontrollierte binnenkirchliche Machtverhältnisse ermöglicht. Erwartet denn wirklich noch jemand, dass nach jahrelangen Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch, dass nach unzähligen Skandalen mit pflichtschuldigem offiziellen Bedauern, dass nach dieser langen Zeit immer wiederkehrender Verbrechen bei jenen auf der kirchlichen Leitungsebene eine spürbare Änderung eintreten wird, die bisher in diesem System so gelebt und sich so verhalten haben?
Parallelen gibt es übrigens durchaus zu anderen Bereichen, zum Beispiel zum schulischen Mobbing. Zwar bemüht man sich um Unterstützung und Hilfe für die Opfer, doch bleiben die unangenehmere Sanktionierung der Täter und die Veränderung der Unrechtsbedingungen oft erstaunlich unkonkret. So wird häufig das Mobbingopfer einer Therapie zugeführt, an deren Ende nicht selten ein Klassen- oder gar Schulwechsel steht. „Ist für alle besser so“, heißt es. Doch der bekannte Täter verbleibt in der Klasse. Das Opfer wird also doppelt bestraft!
Gewissheiten überdenken
Letztlich werden durch das Buch all denen die Augen geöffnet, die sich in Abhängigkeiten befinden. Ihnen wird Mut gemacht, auszubrechen, einen Neuanfang zu wagen. Und denjenigen, die schon lange an manchem Unbehagen an der Kirche und in der Kirche leiden, bietet das an keiner Stelle polemische Buch Gelegenheit, Gewissheiten zu überdenken, Sensibilität für Abhängigkeiten im eigenen Umfeld zu entwickeln und dort Veränderungen anzustoßen. Dass Doris Wagner trotz ihrer schlimmen Erfahrungen ihre scharfsinnige Analyse mit großer Sehnsucht nach dem Gottesglauben und nach der Kirche schreibt, ist dafür ein wunderbarer Türöffner.
Das Buch beginnt mit einem Zitat von Thomas von Aquin: „Die Gnade setzt die Natur voraus. Sie zerstört sie nicht, sondern vollendet sie.“ Veränderungen in unseren Herzen und in der Struktur der Kirche sind möglich. Die Herausforderung betrifft uns alle.