Mehr als ein halbes Jahrhundert hat Werner Trutwin Beiträge für CHRIST IN DER GEGENWART geschrieben. Der erste erschien 1964: „Auf Besuch in Israel“ – Impressionen einer christlich-jüdischen Begegnung, als die Verständigung noch weitgehend Pionierarbeit war. Ebenso die Annäherung an ein Land, das heftigste politische wie militärische Konflikte noch vor sich hatte und das innerlich die verschiedensten religiösen Strömungen und Interessen nicht miteinander harmonisieren konnte. Es war und ist das Land und die Landschaft Jesu, mit „heiligen“ Orten, die in Trutwin allerdings mehr noch die historisch-kritische Rückfrage weckten und ihn die Traurigkeit des Augenblicks spüren ließen: „Das Jordanwasser dient schon lange nicht mehr der Bußtaufe, sondern ist ein Politikum geworden, das in der Vergangenheit und auch heute noch Kriegsgefahr bedeutet… Und dort auf dem Hirtenfeld, wo den Menschen guten Willens der Friede von den Engeln verheißen wurde, stehen heute Soldaten auf Wache und sind die Rohre der Gewehre und Geschütze drohend gegeneinander gerichtet.“
Was ist aus den großen messianischen Friedensverheißungen des Ein-Gott-Glaubens geworden – und was wird daraus werden? Diese Frage hat Trutwin nie losgelassen. Sein letzter Beitrag im CIG war wieder ein Blick auf das Judentum, die Besprechung eines Buches über Leib und Leben in dieser Kultur und Religion. Gegen Ende verwies der Rezensent auf die ausführliche Darstellung von Gesundheit und Krankheit, Leiden, Schmerz und Sterbebegleitung, auf „die ergreifenden Todesriten“, das Begräbnis und – den Auferstehungsglauben. Nun ist Werner Trutwin selber – wenige Wochen vor seinem neunzigsten Geburtstag – nach längerer Krankheit heimgegangen in jenes mysteriöse Ewige, das ihn als lebensfrohen Menschen, als echten Menschenfreund und Gottesfreund, als Theologen und Lehrer, als Forschenden, Betenden, Lesenden und Schreibenden, Liebenden, Glaubenden und Hoffenden bewegt, ja zutiefst berührt hat.
Mit Hebammenkunst
Werner Trutwin war ein Mann des Wortes, das aus sich selber spricht, immer neu fasziniert von den biblischen Schriften, in denen und aus denen sich in der Vielfalt der Bilder und Annäherungsversuche ans wahre Geheimnis Offenbarung in Geist und Sinn ereignet – und nicht so sehr aus den Ableitungen notwendigerweise „gezimmerter“ Dogmatik mit ihren je eigenen Konstruktionen, Hypothesen und Theorien. Die Bibel als Fundament, aber nicht als Fundamentalismus. Die im wahrsten Sinn des Wortes Heilige Schrift hat er immer wieder neu befragt, bedacht, meditiert – und das unter dem Horizont der jeweils neuen exegetischen, sprachwissenschaftlichen und archäologischen Forschungsergebnisse. Die Bibel war für Trutwin nicht einfach nur ein Objekt, ein Buch, sondern ein Prozess, ein Geschehen, Leben, um die Menschen leben, gut leben zu lassen trotz aller Bedrängnis und Zweifel. Das Wort, das aus den Schriften ausgeht, kommt nicht leer, nicht unverändert zurück, weil es wirkt und durch das Gewordene selber belebt wird.
Der Lehrende ist ein Lernender. Das war Trutwin sein ganzes Leben lang. Die eigene Lehrautorität hat er nicht aus falscher Bescheidenheit, womöglich gar Ängstlichkeit, die Dinge beim Namen zu nennen, versteckt. Aber er hat sie nicht „dick aufgetragen“. Sokratisch „funktioniert“ das Leben am besten als Hebammenkunst, die beim anderen – beim Schüler – anregend fördert, selber zu denken, selber zu fühlen, selber zu guten und richtigen Schlüssen zu kommen, also selber zu „gebären“. Der klassisch humanistisch gebildete und philologisch geschulte Trutwin hat das als Lebensstil und Lebenshaltung verinnerlicht in gelassen-engagierter Heiterkeit. So wurde er zum wahrhaft berufenen Pädagogen, der nach vielfältiger Tätigkeit an verschiedenen Gymnasien mit den Fächern Latein, Philosophie und Religion schließlich zwei Jahrzehnte lang in Bonn-Bad Godesberg das Heinrich-Hertz-Gymnasium leitete.
Vielfach ist er geehrt und ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Ehrendoktor der Katholisch-Theologischen Fakultät der Bonner Universität. Insbesondere auch deshalb, weil er unermüdlich – bis ins hohe Alter hinein – Schulbücher, Unterrichtswerke für die verschiedensten Jahrgangsstufen und Schultypen erarbeitet, entworfen hat – und das oft genug in der Mühsal, sich mit bürokratischen Mühlen herumplagen zu müssen; auch mit kirchlichen „Aufsichts“-Gremien, die meinten, an zu progressiv erscheinenden Vorlagen Rückbesserungen gemäß dogmatischer Lesart vornehmen oder einfordern zu müssen. Es gibt nicht viele Religionslehrer, die heutzutage solch immense Arbeit auf sich nehmen und stets von Neuem den christlichen Glauben und seine Welt und Umwelt ins Herz der Bildungseinrichtung Schule, in die Form des gedruckten, zum konzentrierten Lesen und Studieren anregenden Buches tragen, um das Herz der Schülerinnen und Schüler zu erreichen und Seele wie Verstand zu bereichern.
Mehr als nur Religionskunde
An der Bibel hängt es, mit dem jüdischen Glauben beginnt es, im interreligiösen Dialog setzt es sich fort. So hat Trutwin mehr und mehr seinen Blick auch auf die andere monotheistische Religion gerichtet – den Islam. Und er nahm die weiteren weltbestimmenden Religionen mit hoher Kenntnis und Einfühlung in viele seiner Werke auf, die mehr waren als nur Religionskunde, die vielmehr ein Gespür für die Seele der Andersglaubenden wecken und damit den je eigenen christlichen Glauben stimulieren wollten. Dazu fuhr Trutwin hinaus in die Fremde, die Weite. Viele Reisen hat er unternommen, um die Welt der Anderen, die Welt des Andersheiligen und doch zutiefst Gemeinsamheiligen kennenzulernen: neben Israel Indien, Burma, Japan, China, Kambodscha, Thailand, Syrien, Palästina, Jordanien, die Türkei… Auch in die Orthodoxie tauchte er ein. Immer wieder aber suchte er die eigenen religiösen, kulturellen, geistigen Ursprünge auf, um die Quellen genauer zu erkunden und Verständigung zu inspirieren. Das tat er unter anderem als langjähriges Mitglied im Gesprächskreis „Juden und Christen“ des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und in einer entsprechenden Arbeitsgruppe bei der Ökumene-Kommission der Bischofskonferenz.
Warum erst vor 2000 Jahren?
Weltsichten ermöglichen Glaubenssichten – und umgekehrt. Trutwin liebte die Welt, er liebte die Menschen, die vielen lernenden und neugierigen jungen Leute, die ihm anvertraut waren. Er liebte seine große Mehrgenerationenfamilie. Und er liebte Gott, wie er sich in Jesus Christus als Heiland gezeigt hat. Heilen – das ist nicht nur die vornehmste Aufgabe des Priesters, es ist auch die vornehmste Aufgabe des Lehrers: Heilen durch Denken, Heilen durch Schauen, Heilen durch Fühlen, Einfühlen. Die modische Kritik an Wissens- und Inhaltevermittlung, die mit einem abstrakten Gerede von „Kompetenzvermittlung“ gepaart ist, machte Werner Trutwin nicht mit. Denn ohne Wissen gibt es keine Substanz. Bildung hat Voraussetzungen in einer Kette von Überlieferung und Erinnerung, die dem neuen morgen dient. So hat er ständig das eigene Wissen erweitert und erweitern lassen. Über die Gebiete der Religion und Philosophie hat er sich hinausbegeben, um auch die naturwissenschaftlichen Fragen an die Glaubensfragen heranzuführen. Immer wieder: die Gottesfrage. An ihr im Horizont der sich wandelnden Welterfahrung entscheidet sich, wie der Mensch Sinn und Geschmack fürs Unendliche finden, ja entwickeln kann.
Religion hat man nicht, Glauben hat man nicht – „es“ geschieht, prozesshaft. Daran hat Werner Trutwin ein Leben lang gearbeitet, Bücher verfasst und viel aus seinem lernend-lehrenden Wirken auch für diese Zeitschrift und ihre Leser fruchtbar gemacht. Ein echter Pädagoge Gottes im Bewusstsein der eigenen Schwächen wie Stärken.
Im CIG-Buch „Mein Glaube in Bewegung“ gab Trutwin Rechenschaft von seiner unermüdlichen Suche: „Mein Glaube war in meinen vielen Lebensjahren keine feste Größe. Im Laufe der Zeit ist er manchmal stärker gewesen und hat sich immer wieder in neuem Licht gezeigt. Er ist aber manchmal auch schwächer geworden und geriet bisweilen in ein tiefes Dunkel… So stellen sich Fragen wie diese: Wie ist Gott in und außerhalb der Welt mit ihren unvorstellbar großen zeitlichen und räumlichen Dimensionen zu denken? Müssen wir im Zeitalter der Evolution … ein evolutives Gottesbild entwickeln? Warum hat es Jahrmillionen gedauert, bis Gott im Alten und Neuen Testament sprach und den Menschen erst vor 2000 Jahren ihr endgültiges Heil zusagte?… Trotz dieser Fragen bin ich mehr denn je von der Notwendigkeit und Richtigkeit des Glaubens überzeugt … Und die Kirche? Sie gewinnt mehr und mehr an Bedeutung, weil man da so viele Christinnen und Christen erleben kann, die mit und ohne Amt und Würden den Glauben feiern, hoffnungsvoll leben und zeigen, wozu die Liebe fähig ist.“
Mit Werner Trutwin ist uns ein lieber Autor, Mitarbeiter, Ratgeber und echter Freund vorausgegangen. Ihm haben wir und die Leser viel zu verdanken: die Horizonterweiterung eines wahren Glaubenslehrers als Lebenslehrer, der zeit seines Lebens um den eigenen Glauben und den Glauben der anderen gerungen hat – mit Bildung und für Bildung, auch für kommende Generationen.