Mystik im AlltagTrauerarbeit, aber konkret

Zusammen mit Geburt und Tod ist nichts elementarer und intimer als Sexualität. Die geschlechtliche Prägung bestimmt das ganze Leben und alles Verhalten. Entsprechend hat alles, was man Spiritualität oder gar Mystik nennen könnte, damit zu tun. Immer geht es um die Dynamik des Begehrens und den Wunsch nach Beziehung, immer um Vereinigung, Kommunion und Liebe. Es ist folgerichtig, dass zusammen mit dem Drama des sexuellen Missbrauchs auch das Thema spiritueller Missbrauch endlich auf den Tisch kommt. Der fängt schon damit an, anderen im Namen Gottes etwas aufzuerlegen, was man selbst nicht tut. Schon die Jesus-Überlieferung hat diese Verlogenheit gebrandmarkt – auf dem Rücken der großartigen Pharisäergilde, die man dann ihrerseits zwecks Ablenkung vom eigenen Versagen christlich zum Sündenbock machte. Aber das Matthäusevangelium hatte durchaus die Autoritäten der eigenen Gemeinden im Blick: „Was sie sagen, das tut; was sie tun, das tut nicht“ (vgl. 23,3) – ein Manifest gegen jede Form des Klerikalismus.

Zum Scham- und Schuldzusammenhang solchen Missbrauchs unter uns Christenmenschen gehört, dass die Kirche in ihren Amtsträgern im Namen Christi spricht. Das ganze moralische Normengefüge wird in göttlicher Vollmacht auferlegt. Ein Entrinnen ist nur unter schrecklicher Strafandrohung und mit entsprechendem Schuldbewusstsein möglich, mit förmlicher Heidenangst vor endgültiger Bestrafung. Es besteht die Gefahr, selbst Gott zu spielen. In Konsequenz kommt es zur Sakralisierung des Amtes und auch der Amtsträger.

Als wir Kandidaten zum Beispiel den Weg des Priestertums begannen, wurde uns von leitender Stelle gratuliert zu „der hohen Berufung, allen alles zu werden und auf ein Privatleben zu verzichten“. Wenn das einem Achtzehnjährigen nicht ein Erwählungsbewusstsein beibringen konnte, gar in die Schuhe eines einmaligen Apostels schlüpfen zu sollen (vgl. 1 Kor 9,22)! Wie groß die Versuchung, sich fortan ungestraft alles erlauben und alles „leisten“ zu können!

Trauerarbeit und Beichte tun not, und die sind immer konkret. Dazu ein „kleines“ Beispiel: Der Schriftsteller Thomas Hürlimann erinnert in seinen Werken an die Lebensnot seiner Mutter. Als Katholikin hatte sie bis aufs Sterbebett unter schrecklicher Schuldangst gelitten. Denn ihre totgeborenen Zwillinge konnten – so ihr Glaube – ungetauft nicht wirklich zu Gott kommen, nur in den sogenannten Vorhimmel, eine Art ewige Bewahrstation. Historisch war das eine Theologenkonstruktion, um die Lehre von der Heilsnotwendigkeit der Kindertaufe hochzuhalten. Wie viele katholische Eltern haben sich mit der Frage herumgequält, was mit ihren früh verstorbenen, nicht getauften Kindern sei und was sie selbst sträflich falsch gemacht hätten. Diese kirchliche Lehre wurde 2007 in Rom sang- und klanglos abgeschafft. Das Gespenstische daran: kein Wort der Reue, keine transparente Aufarbeitung, keine Entschuldigung. Jahrhundertelang gepredigte göttliche Lehre, die heftigste Schuldgefühle ausgelöst hat – und dann von jetzt auf gleich nichts mehr, nicht einmal innerkirchliche Trauerarbeit, keine bischöfliche Erklärung, gar nichts. Angesichts von so viel Selbstherrlichkeit ist es höchste Zeit zu Beichte und Trauerarbeit, aber bitte konkret. Höchste Zeit, sich von jeder Art Selbstherrlichkeit zu verabschieden. Die schafft nur Leidtragende.

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