Lyonel Feininger: "Gelmeroda IX"Kirchtürme, durch Kristall gesehen

Gelmeroda, heute ein Vorort von Weimar, wurde durch Lyonel Feininger berühmt, weil er die Dorfkirche mit ihrem charakteristischen Chorturm immer wieder zeichnete, malte, im Holzschnitt druckte.

© Foto: Lyonel Feininger, Gelmeroda IX, 1926 (Museum Folkwang, © VG Bild-Kunst, Bonn 2019)

Vor hundert Jahren gründete Walter Gropius (1883–1969) in Weimar das „Bauhaus“. Es bestand als Schule für alle bildenden Künste bis 1933, ab 1926 in Dessau, seit 1932 in Berlin. Mit seiner Schließung und der Entlassung und Vertreibung seiner LehrerInnen und SchülerInnen begann der „Bauhaus“-Welterfolg in London, Chicago, Harvard, New York und – nach 1945 – auch in Europa und Asien.

Zu den Lehrern der ersten Stunde gehörte Lyonel Feininger (1871–1956). Er ist in New York geboren als Sohn deutscher Musiker. Der Vater war Violinist, die Mutter Pianistin und Sängerin. Feininger kam auf einer Konzertreise der Eltern sechzehnjährig zum ersten Mal nach Deutschland und blieb da. Er besuchte die Kunstgewerbeschule in Hamburg, die Kunstakademie in Berlin, das Jesuitenkolleg in Lüttich und die Akademie Colarossi in Paris und wurde ein erfolgreicher Karikaturist, der für deutsche und amerikanische Zeitschriften arbeitete. Feiningers Comics, die 1906/1907 in Chicago erschienen, wurden 1994 wieder aufgelegt.

Der Künstler komponierte vierzehn Fugen für Orgel und Klavierstücke. Mit 36 Jahren wandte er sich der Malerei zu. 1911 konnte er in Paris im „Salon des Artistes Indépendants“, wo die Kubisten sich zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentierten, sechs Gemälde ausstellen. Dort traf er Robert Delaunay und Henri Matisse. 1913 war er in der Berliner Galerie „Der Sturm“ vertreten. Von der Stilrichtung des Kubismus distanzierte er sich damals vorsichtig: „Meinen Kubismus nenne ich lieber Prisma-ismus“, ein Wort, das sich als Stilbegriff nicht durchgesetzt hat, obwohl es die optischen Effekte des Sehens durch ein Glasprisma gut andeutet.

Der expressionistische Dichter Theodor Däubler nannte Feininger 1919 den „klarsten Kristalliker“. Im selben Jahr berief ihn der Architekt Walter Gropius an das „Bauhaus“ in Weimar als Leiter der grafischen Abteilung. Bis 1932 blieb er als Meister dort. 1937 wanderte er nach Amerika aus. Er unterrichtete am Mills College in Oakland. Das „Museum of Modern Art“ widmete ihm eine Ausstellung. 1947 wurde er zum Präsidenten der „Federation of American Painters and Sculptors“ gewählt. Als Mitglied des „Deutschen Künstlerbunds“ stellte er 1953 in Hamburg aus, danach in Frankfurt am Main, Baden-Baden und Düsseldorf. Mit 84 Jahren starb er in New York.

Gelmeroda, heute ein Vorort von Weimar, wurde durch ihn berühmt, weil er die Dorfkirche mit ihrem charakteristischen Chorturm immer wieder zeichnete, malte, im Holzschnitt druckte. Die Abbildung rechts aus dem Museum Folkwang in Essen trägt die Nummer IX und ist auf 1926 datiert. Spitzgieblige Hausfronten in Rot, Gelb und Grün rahmen den Blick auf die Kirche. Ihr Langhaus ist gemalt mit schmalen hohen Fenstern und hohem Dach, dem niedrigeren Chor und dazwischen dem Turm, im Viereck gemauert, einem kurzen Schrägdach über der Glockenstube, aus dem wie eine Nadel die Turmspitze nach oben schießt. Abgeschlossen wird der Turm, kurz vor dem Bildrand, von einer Kugel.

Die Kirche ist von Osten – im Bild links – beleuchtet, als ob es früher Morgen wäre. Zehn, vielleicht zwölf schwarz gekleidete Personen, eine ganz links in Weiß, stehen vor dem Portal im Untergeschoss des Turms. Sie kommen von rechts, von vorne und von links, als wollten sie in die Kirche gehen. Aber sie gehen nicht. Sie stehen da, als ob sie angefroren wären. Transparente Farbflächen, zwischen Gelb, Grün und Blau changierend, überlagern sich. Sie grenzen sich geradlinig voneinander ab – es sieht aus, als ob man durch einen Kristall oder einen facettierten Edelstein blickt. Die Farbfelder verdichten sich nach oben, links zu dunklem Blaugrün, rechts zu hellem Grün, dazwischen steht dunkelblau die Nadelspitze des Turms, begleitet von Rot links und hellem Blau rechts. Ihre Form scheint weniger ein Abbild der Architektur zu sein als von der Überlagerung der Farbfelder bestimmt. Ein warmer Schein der Morgensonne streift die Turmmauer über dem spitzwinkligen Eingang, macht den Boden hell, fast schneeweiß, und beleuchtet die Front des niedrigen rötlichen Hauses rechts.

In der Wirklichkeit hat die Kirche von Gelmeroda von der Nordseite keinen Eingang in den Chorturm. In Feiningers realistischer Zeichnung von 1906 fehlt er, auch in späteren Versionen, zum Beispiel „Gelmeroda XII“. Aber in unserem Bild brauchte ihn der Maler an dieser Stelle, um die Kirche für die unbeweglichen schwarzen Figuren zu öffnen. Kommen sie durch das Portal über den Turm in den Himmel?

Kirche und Moderne

Die katholische Kirche war seit 1848, als italienische Revolutionäre Papst PiusIX. aus Rom vertrieben hatten, allen Neuerungen, allem Modernen gegenüber feindlich gesinnt. Man kann diese Haltung auch schon auf das Exil PiusVI. 1798 zurückführen. Aber während der sechste Pius von der französischen Armee entführt wurde, kam der neunte durch französisches Militär auf seinen Thron zurück. Seit damals versteifte sich die Kurie darauf, alles abzulehnen, was mit den geistigen, kulturellen und politischen Strömungen der Zeit zu tun hatte. Sie zentralisierte die Kirche wie nie zuvor in ihrer Geschichte und igelte sich zunehmend in einer „defensiven Kräftekonzentration“ ein, eine Formulierung des Kirchenhistorikers Hubert Jedin. Demokratie, Liberalismus, Sozialismus, Evolutionslehre, Religionsfreiheit, Menschenrechte und die historisch-kritische Methode des Bibelstudiums wurden zu einem Popanz, genannt „Modernismus“, zusammengefasst, dem von 1910 bis 1966 jeder Theologe, der zum Priester geweiht werden wollte, abschwören musste.

An der allgemeinen katholischen Denunziation beteiligten sich auch Künstler, die Konkurrenten um kirchliche Aufträge als „Modernisten“ anschwärzten. Denn das Erscheinungsbild von Kirche, die Glaubensästhetik, hängt eng mit ihrer inneren Verfassung zusammen. Darum flüchtete die Kirche in den Historismus, baute neugotisch, neuromanisch, neubarock, beschwor in ihren Bauten, Bildern und Büchern untergegangene Welten und Epochen, in denen das Glauben vermeintlich leichter war.

Das Zweite Vatikanische Konzil Anfang der sechziger Jahre hat die vom Vorgängerkonzil (1870/1871) errichteten Kirchenmauern teilweise eingerissen. Aber es war keine kunstpädagogische Veranstaltung. Ästhetische Fragen wurden nur im Zusammenhang mit Liturgie knapp angesprochen. Sie blieben außerhalb der Beachtung theologischer Interessen, trotz Hans Urs von Balthasar, Otto Mauer, Marie-Alain Couturier, Pie-Raymond Régamey, Alex Stock, Friedhelm Mennekes und anderer Einzelkämpfer für den Dialog zwischen Kunst und Kirche. Dass die moderne Kunst aus dem Geist der Religion erwachsen war, blieb unterhalb des Horizonts des kirchlichen Milieus, bis 1980 Wieland Schmied in der Berliner Ausstellung zum Katholikentag „Zeichen des Glaubens – Geist der Avantgarde“ medienwirksam darauf hinwies.

Die Kirchenbilder Lyonel Feiningers hätten schon 1912 das Interesse der Kirche finden müssen, da sie Steinschwere und Himmelsstreben vor Augen stellen und damit das Wesen der Kirche selbst. Von der Bedeutung der Kirchtürme als Hinweis auf den Höchsten war an dieser Stelle voriges Jahr am Beispiel der Türme von Straßburg, Freiburg und Wien (CIG Nr. 26, 31, 35/2018) die Rede. Feininger faszinierten Kirchen und Kathedralen schon immer. Er hat dem „Bauhaus“ im Holzschnitt von 1919 eine Kathedrale als Bau aller Künste programmatisch vorgestellt. Nach Walter Gropius stellt sie den neuen Bau der Zukunft dar, der „aus Millionen Händen einst gen Himmel steigen wird als kristallines Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens“. Der Holzschnitt erhielt später den Titel „Kathedrale des Sozialismus“. Wenige Monate nach dem Ersten Weltkrieg nannten sich viele KünstlerInnen „sozialistisch“, ein Grund für Konservative, die Moderne zunächst als „Kulturbolschewismus“ zu verunglimpfen. Das Kampfwort wurde später durch den biologischen Begriff der „Entartung“ ersetzt.

Auch Lyonel Feininger galt den Kulturbehörden seit 1933 als „entarteter Künstler“. Seine Werke wurden aus den öffentlichen Museen und Sammlungen entfernt. Glücklicherweise fanden sie in Amerika Bewunderer und Sammler. Vor allem die aus Braunschweig stammende Malerin und Sammlerin Galka Scheyer vertrieb Feiningers Bilder, zusammen mit denen von Paul Klee, Wassily Kandinsky und Alexej von Jawlensky, die sie als die „Blauen Vier“ propagierte und auf den Markt brachte. Das Blau, von Kandinsky als Farbe des Himmels, der Sehnsucht und der Bewegung vom Menschen her definiert, ist im Werk aller vier Künstler vorherrschend, am häufigsten bei Feininger. Und keiner hat Kirchtürme so richtungsweisend gesehen und gemalt. Der Mensch wird bei Feininger, wie der Kunsthistoriker und Museumsleiter Peter Klaus Schuster einmal schrieb, in den Kristallstrukturen seines Werkes vor die Dimension der Ewigkeit gestellt, in jedem Bild immer wieder anders.

Das Folkwang-Museum hatte 1919 in Hagen eine erste Ausstellung von Gemälden, Aquarellen und Grafiken gezeigt und 1931 in Essen eine große Ausstellung zum 60.Geburtstag Feiningers veranstaltet. 1937 musste es seine „entarteten“ Werke abgeben und konnte erst nach 1948 versuchen, durch Neuerwerbungen die Lücken wieder zu schließen. Die Kabinettsausstellung „Lyonel Feininger“ (bis 14.April) ist die erste in einer Reihe „Bauhaus am Folkwang“, die den 100. Geburtstag des „Bauhauses“ feiert.

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