Vatikan-Gipfel über KindesmissbrauchVier Tage Klartext

Die vatikanische Versammlung von Kirchenführern aus aller Welt über das Verbrechen sexuellen Kindesmissbrauchs war und ist viel bedeutsamer, als die Medienberichterstattung nahelegt.

Vor jedem Klimagipfel wird von den Kritikern gesagt, dass bei dem Treffen eh nichts herauskommen werde. Und nach jeder derartigen Versammlung ist dasselbe zu hören: Sie habe im Wesentlichen nichts gebracht. Genau dasselbe Ritual hat sich beim vatikanischen Großtreffen der katholischen Weltkirche über Kinderschutz und sexuellen Missbrauch abgespielt. Da sei kein Durchbruch zu erwarten, hieß es vorher. Und danach ertönt es unisono aus fast allen Zeitungen und Opferverbänden genauso: Es sei enttäuschend gewesen, konkret sei nichts beschlossen, also eigentlich kein Ergebnis.

Gibt es das wirklich nicht? Vergleiche sind schwierig und hinken. Aber gemessen daran, dass oberste Klimakonferenzen schon seit Jahrzehnten in regelmäßiger Reihenfolge stattfinden und dass bei zähen Verhandlungen völlig verschiedene nationale Interessen aufeinanderprallen, war die erstmalige Zusammenkunft von Bischofskonferenz-Vorsitzenden der katholischen Kirche sowie Vertretern des Vatikan und weiterer Delegierter – nahezu zweihundert – ein Ereignis mit Konsens: Sünde ist Sünde. Und eine schwere Sünde ist eine schwere Sünde. Sexueller Kindesmissbrauch ist schwerste Sünde, eine Todsünde. Weil das sehr wohl allen gerade im klerikalen System „katholische Kirche“ bewusst ist und bewusst war, hatten die Beratungen bei und mit der Spitze der Kirchenführung, mit dem Papst, höchste Bedeutung. Denn die Tatsache, dass Geistliche stets Höllenstrafen bei Verfehlungen gegen die Sexualmoral predigten, sich selber aber offensichtlich nicht an das hielten, was sie verkündeten, es jedenfalls nicht ernstnahmen, hat die Grundfesten des gesamten hierarchischen Systems erschüttert, die oberste Lehrautorität eingeschlossen. Dass nun vor den Augen der Weltöffentlichkeit an oberster Stelle ein Schuldbekenntnis abgelegt, Reue gezeigt und Bußwilligkeit bekundet wurde, kann überhaupt nicht hoch genug bewertet werden, erst recht religiös. Wer die Ernsthaftigkeit derer, die in Rom zusammenkamen, bestreitet, kann oder will die Realität des Umkehrwillens nicht sehen – oder er spielt ein eigenes Spiel, um die gängige Abneigung gegen die christliche Glaubensgemeinschaft weiter zu schüren. Dann wird jeder Verweis auf die nochmals gesteigerte Sündigkeit in anderen gesellschaftlichen Bereichen als Ablenkung von den eigenen Verbrechen denunziert, statt diese Fakten als echte Herausforderung von Kultur und Politik auch außerhalb des Kirchen-Binnenraums anzunehmen.

Machtsysteme allerorten

Um die wahren Dimensionen jener schrecklichen sexuellen Verbrechen gegen die Menschlichkeit deutlich zu machen, muss man nur einmal beispielhaft die Daten der – inzwischen aufgelösten – Odenwald-Reformschule zur Kenntnis nehmen. Allein dort wurden laut neueren Untersuchungen bis zu neunhundert Kinder aufs Schwerste sexuell missbraucht. Gemäß der Studie der deutschen Bischofskonferenz kommt man in ganz Deutschland von 1946 bis 2014 auf 3677 Fälle. Das Machtsystem der Art katholische Kirche existiert so singulär, wie gern behauptet wird, nicht. Vielmehr gibt es viele Parallelen im weltlichen Bereich. In „Spiegel online“ wird Florian Straus, einer der Erforscher der Odenwaldschul-Verhältnisse zitiert: „Die dort über Jahrzehnte praktizierte sexuelle und emotionale Ausbeutung von Schülerinnen und Schülern lässt keine andere Diagnose zu als die eines manipulativen, selbstherrlichen und schäbigen pädagogischen Systems, in dem alle Kinder und Jugendlichen massiven Entwicklungsrisiken ausgesetzt wurden.“

Dass es in „der Welt“ genauso schlimm, ja weitaus schlimmer zuging – und zugeht – wie im weltlich Ding der „sakralen Heilsanstalt“ Kirche, entschuldigt die im katholischen Binnenraum begangenen Verbrechen selbstverständlich nicht. Das wird auch nicht entschuldigt. Das hat das römische Treffen erneut deutlich gemacht. Sein Ziel war keineswegs bescheiden: Es wollte Bischofskonferenzen aus verschiedensten Weltgegenden auf den „Stand der Dinge“ bringen und allen energisch ins Gewissen reden, aufzuklären, aufzuklären und nochmals aufzuklären – und nicht aus irgendwelchen falschen Loyalitätspflichten heraus die Fakten zu vertuschen. Zudem sind alle Teilnehmenden darauf hingewiesen worden, dass sie mit den weltlichen rechtlichen Instanzen eng zusammenarbeiten müssen, unabhängig davon, dass ergänzend genauso die Gesetze des kirchlichen Strafrechts angewendet werden müssen.

Freilich hört sich davon manches im Kontext westlicher Rechtsstaatlichkeit trivial an. Was aber ist, wenn die Kirche in bestimmten Gegenden selber drangsaliert wird von politisch autokratischen Regimen und undemokratischen Systemen, die weder echte Religionsfreiheit noch Rechtsstaatlichkeit kennen? Davon gibt es zu viele auf dem Erdenrund. Man bedenke nur, dass zum Beispiel in Pakistan der Vorwurf, Mohammed „beleidigt“ zu haben, ausreicht, um die Todesstrafe gegen einen Christen zu verhängen und zu vollstrecken. Wie kann in einem Rechtssystem, das Recht beugt, darauf vertraut werden, dass weltliches Recht recht angewendet wird? Es ist außerdem folgerichtig, wenn Bischöfe aus Weltgegenden, in denen massenhaft Kinder für Sklavenarbeit oder das Söldner-Unwesen missbraucht werden, fragen, warum einzig die kirchlichen Fälle ins Rampenlicht treten sollen, während der ungeheuerliche sonstige Komplex außen vor bleibt. Auch in den Medien herrscht da selektive Wahrnehmung.

Historisches Denken – da nicht?

Mit der katholischen Kirche hat man leichtes Spiel. Denn dank ihres so klaren und zentralen hierarchischen Systems ist der Sündenbock – unabhängig von den vielen einzelnen verbrecherischen Personen – leicht greifbar: die Körperschaft Kirche als ein Körper angeblich nur verbrecherischer Absichten. Der inzwischen weitverbreitete und geschürte Kirchenhass trägt seinen Teil dazu bei, Differenzierungen auszublenden. Weiter vertuschen und vermauscheln – das können und dürfen dann gut die anderen.

Vielfach wird behauptet, im kirchlichen Bereich sei nichts geschehen, um dem betreffenden Übel entgegenzuwirken. Das beleidigt jedoch die Vielen, Laien wie Kleriker, die seit langem engagiert für Offenlegung und Durchsetzung von Kinderschutz arbeiten – vor Ort wie in Rom. Vor allem in stark betroffenen kirchlichen Regionen der Nordhalbkugel sind innerhalb der letzten fünfzehn Jahre in einer für träge Institutionen erstaunlich raschen Zeit etliche Maßnahmen von der Bewusstseinsbildung in der Jugendarbeit bis hin zur Kooperation mit Strafverfolgungsbehörden in die Wege geleitet und umgesetzt worden. Es wäre unredlich zu verschweigen, dass Kindesmissbrauch durch Kleriker in jüngerer Zeit massiv abgenommen hat. Was täglich, verständlicherweise entrüstet, diskutiert wird, betrifft häufig die – manchmal sogar weit zurückliegende – Vergangenheit und deren Aufarbeitung.

Ansonsten fordern wir historisches Denken ein. Maßstäbe und Einsichten von heute dürften nicht unvermittelt zur Beurteilung des Gestern angelegt werden. Auch in weltlichen Instanzen – etwa Schulen, Schulämtern, Sport- und Musikvereinen – wurde bis weit in die neunziger Jahre hinein bei Kindesmissbrauch durch Autoritätspersonen ähnlich verfahren wie in der Kirche. Im Zuge der sexuellen „Befreiung“ wurde in gewissen grün-alternativen Kreisen Sex mit Kindern sogar ideologisch als heilsam für deren Persönlichkeitsentwicklung gepriesen. Alles schon wieder vergessen? Die entsprechenden Entschuldigungsbekundungen der „Protagonisten“ von einst waren jedenfalls sehr mager. In der Kirche wussten die Missbrauchsverbrecher hingegen wenigstens, dass die Todsünde eine Todsünde ist, auch wenn das Wissen die Triebhaftigkeit nicht einbremste.

Die Lieblings-Therapievorschläge

Papst Franziskus hatte zu Beginn der vatikanischen Versammlung, die Seele und Gemüt erschütternde Zeugnisse von Opfern zu Gehör brachte, 21 Themenfelder benannt, die zweifellos weiter ausgearbeitet werden müssen, um Wirkung zu zeigen. Dass das alles jedoch nichts sei, ist eine böswillige Unterstellung. Auch sollte man einen Papst, der Reformen will, aber seinem Anliegen durch manchmal sehr schräge Vergleiche keinen guten Dienst erweist, nicht auf verunglückte Redensarten festnageln, so etwa bei seiner Gleichsetzung von Kindesmissbrauch mit heidnischen Kinderopfer-Ritualen. Die Anregungen, die Franziskus I. vorlegte, sind jedenfalls nicht schlecht: Unter anderem soll eine praktische Anleitung die einzelnen Schritte benennen, die von den kirchlichen Autoritäten zur Aufdeckung von Missbrauchsfällen und in jeder einzelnen Phase der Aufdeckung zu unternehmen sind. Es sollen Strukturen geschaffen werden, um mit qualifizierten Fachleuten die Falllage zu prüfen. Kriterien müssen festlegen, wie etwa der Bischof oder die Ordensobere einzubinden ist – und wie übergeordnete zivile Autoritäten informiert werden. Auch geht es darum, ein Sensorium zu entwickeln, um möglichen Missbrauch überhaupt zu erkennen. Regelungen sollen gefunden werden zur psychologischen Überprüfung und Einschätzung von Ordens- und Priesteramtskandidaten. Auch soll besser überwacht werden, wenn Priesteramtsanwärter, Priester oder Ordensleute von einem Bistum zum anderen oder von einer Kongregation zur nächsten wechseln. Zu oft konnten sich auf diese Weise Missbrauchstäter verstecken, der Strafverfolgung entziehen. Schließlich geht es darum, wie Opfer zur Heilung ihrer Traumata kirchlich unterstützt werden können. Und wie können Täter in passender Weise nach „Wegen der Buße“ gesellschaftlich und seelsorglich wieder eingegliedert, aber auch so überwacht werden, dass sie keinen Schaden mehr anrichten?

Nach dem quasi-synodalen Treffen in Rom kommt noch viel Arbeit auf die kirchlich Verantwortlichen zu. Der Papst selber will zum gesamten Komplex ein eigenes Schreiben veröffentlichen. Die Glaubenskongregation soll mit Experten ein Praxishandbuch für die Bischöfe weltweit entwerfen. Schließlich soll eine Art „schnelle Eingreiftruppe“ gebildet werden, die überall dort mit Rat und Tat zur Seite steht, wo Bischöfe oder Ordensobere sich überfordert sehen, in Missbrauchsfällen vorzugehen, die richtigen Maßnahmen zu ergreifen. Längst kann der Vatikan dabei auf wichtige Vorarbeiten in verschiedenen Ländern – unter anderem in Deutschland, aber auch in Amerika – zurückgreifen.

Ein weites Feld ist, inwiefern sich im hierarchischen System und im Kirchenrecht Grundlegendes ändern kann und muss, um Strukturen, die Missbrauch begünstigen, abzubauen. Was ist zum Beispiel in der Verwaltung – eventuell durch eine eigene Verwaltungsgerichtsbarkeit – zu verbessern, um Verfahren und Zuständigkeiten ordentlich zu regeln und somit Anzeigen von Missbrauch konsequent nachzugehen? Ob die momentan fast überall einheitlich vorgetragenen Lieblings-Vorschläge zur Kirchenreform tatsächlich notwendige Voraussetzungen für besseren Kinderschutz sind, kann man dagegen bezweifeln. Zum Beispiel heißt es, der nur im lateinischen Teil der katholischen Kirche geltende Zölibat solle nicht mehr verpflichtend für den priesterlichen Dienst vorausgesetzt werden: Wenn die Ehelosigkeit jedoch tatsächlich Kern des Problems wäre, warum findet sexueller Kindesmissbrauch ansonsten in „der Welt“ weitgehend durch Verheiratete statt? Oder es wird die Lockerung der Sexualmoral verlangt: Warum aber soll ausgerechnet mehr Liberalität, Offenheit und „Freizügigkeit“ sexuellen Missbrauch vermeiden helfen, wo doch gerade die Hypersexualisierung der Gesellschaft diesen eher begünstigt? Schließlich wird eine Neubewertung der Homosexualität gefordert, eine großzügige Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Veranlagung und gleichgeschlechtlichen Verhaltens auch unter Geistlichen: Warum aber wurden im katholischen Kontext, anders als im sonstigen weltlichen Bereich, vorwiegend Jungen sexuell missbraucht? Die Logik legt nahe, dass dabei – wenn auch ständig bestritten – zumindest gewisse homophile Neigungen Geistlicher womöglich doch eine gewisse Tendenz vorgegeben haben könnten.

Dass es trotzdem dringenden kirchlichen Reformbedarf gibt, etwa bei der Zulassung zum geistlichen Amt, ist allerdings offenkundig. Das folgt allein schon aus dem rasant sich verschärfenden Priestermangel. Nur ist der Schrecken des Kindesmissbrauchs kein gutes Argument für die entsprechend notwendigen Veränderungen. Entscheidend muss vielmehr sein: Das bischöfliche Amt darf die christlichen, sich ständig weiter ausdünnenden Gemeinden seelsorglich und sakramental nicht im Stich, nicht „verwahrlosen“ lassen. Oder will man dem sich steigernden Gläubigenmangel tatenlos zusehen? Doch selbst wenn Reformen beschlossen würden – womöglich ist das Zeitfenster längst geschlossen, nachdem bereits jahrzehntelang alles debattiert und vorgeschlagen worden war und nichts geschah. Treiben lassen – das war bislang die Antwort, nicht nur aus Rom.

Längst hat sich die Kirchenkrise zu einer manifesten Glaubenskrise, ja Gotteskrise ausgewachsen. Die konventionellen Vorstellungen von Gott und Heil, Wunder und Sakrament sind für viele nicht mehr tragfähig. Ohne eine neue Theologie, die sich wirklich auf den Horizont unserer Welterfahrung einlässt und das Glaubensbewusstsein auch „unten“ im Volk durchdringt, werden alle noch so gut gemeinten Beschwörungen substanzlos bleiben.

Wer ist wirklich sexualfixiert?

Einst hatte man der Kirche vorgeworfen, sexualfixiert zu sein. Anscheinend war diese strenge Moral jedoch nicht derart streng, dass sie all die Übel hätte verhüten können. Heute erweist sich weniger die Kirche als vielmehr die Gesellschaft sexualfixiert. Die entsprechende Unterhaltungskultur auf allen Kanälen beweist das. Die Hypersexualisierung des gesamten Lebens hat sich zu einer kollektiven Problemzone ausgeweitet, in der nicht nur die Erwachsenen auf der Jagd nach ständig besserer Befriedigung neurotisiert werden, sondern mehr noch die Kinder und Jugendlichen, die unter den massenhaft zerbrochenen Ehen ihrer Eltern leiden. Nicht wenige der Kinder sind darüber psychisch „verwahrlost“. Materiell haben sie fast alles, geistig, geistlich und seelisch aber nicht jene Stabilität und Geborgenheit, die sie bräuchten. So flüchten sich die Heranwachsenden nicht selten selber früh in eigene sexuelle Abenteuer und Beziehungen, in der Hoffnung, dort die Bindung zu erfahren, die sie daheim nicht erhalten. Mit der Folge neuer Enttäuschungen, Auflösungen, Brüche. Ein Teufelskreis.

Auch das wäre ein Thema, ein Erwachsenen-Thema: Was meint eigentlich sexuelle Reife? Und wie erwirbt sich ein Mensch diese? Bisher bleibt die Rede von der „sexuellen Reife“ vage und nebulös, auch im Kirchenkontext, etwa bei der Priesterausbildung. Es ist eine Frage ebenso jener, die nicht auf Lebenszeit als „Single“ leben (wollen).

Die vatikanische Versammlung war ein wichtiger Schritt in einem Prozess der Bewusstseinsbildung, der noch lange nicht abgeschlossen ist, weder in der Glaubensgemeinschaft noch in „der Welt“. Die katholische Kirche war und ist in dem betreffenden Bereich sogar erheblich weiter, als es die zivilen Gesellschaften sind, die sich bisher derart zentral und global wie die katholische Weltkirche des Problemfelds noch gar nicht angenommen haben.

Vier Tage Klartext in Rom sind kein Schlusspunkt. Statt auf die katholische Kirche einzudreschen, die die Initiative – wenn auch noch in vielem unvollkommen – ergriffen hat, sollte man beginnen, von ihr zu lernen, von den Fehlern ebenso wie von ihren Erfolgen zur Eindämmung von Kindesmissbrauch. Ein bisschen mehr Demut innerhalb wie außerhalb der Kirche schadet nicht. Zudem wäre es notwendig, wider den Unschuldswahn Sünde wieder als Sünde wahrzunehmen, zu bekennen und zu versuchen, durch Gewissenserforschung, Reue, guten Vorsatz und Buße dem Bösen entgegenzutreten. Die letzte Vaterunser-Bitte ist dabei alles andere als weltfremd.

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