Seit Advent brennt in jeder Kathedrale Deutschlands eine Kerze für den „synodalen Weg“. Er wird demnächst mit einer Generalversammlung beginnen, an der sowohl Gewählte des Zentralkomitees deutscher Katholiken als auch die Bischöfe teilnehmen, um über akute Probleme der katholischen Kirche zu beraten und Lösungsmöglichkeiten vorzuschlagen. Was jene Kerze bedeutet, ist strittig. Es fehlt nicht an Gläubigen, die skeptisch sind und vom „synodalen Weg“ bloß neue Enttäuschungen erwarten: Die rechtlichen Grundlagen seien unsicher. Am Kern der aktuellen Herausforderung, das Feuer des Glaubens neu zu entfachen, gingen die Themen vorbei. Wichtige Entscheidungen seien ohnehin nur in Rom zu treffen. Mehr noch: Ein deutscher Sonderweg werde eingeschlagen, der ein Holzweg sei. Die Spaltung der Kirche werde vertieft. Dass der „synodale Weg“ nicht mit einem prächtigen, bischöflich geleiteten Gottesdienst unter päpstlichem Segen eröffnet wurde, zeige schon die Misere.
Vorwürfe und Neugier
Die große Mehrheit sieht es anders. Sowohl in der Bischofskonferenz als auch im Zentralkomitee der Katholiken überwiegt der Optimismus, verbunden mit realistischen Ansprüchen: Was klein anfängt, wird groß herauskommen. Papst Franziskus hat in einem neunzehnseitigen Brief, datiert auf das Fest „Peter und Paul“ 2019, das „pilgernde Volk Gottes in Deutschland“ ermahnt und ermuntert, den „synodalen Weg“ zu gehen, um „nach einer freimütigen Antwort auf die gegenwärtige Situation“ zu suchen, die im Zeichen einer tiefen Krise steht. Sowohl der Bischofskonferenz als auch der Laienvertretung ist klar, was vor Ort entschieden werden kann und muss und was eine weltkirchliche Angelegenheit ist. Es gibt allerdings stark traditionsorientierte bis traditionalistische Gruppierungen, international über die sozialen Medien bestens vernetzt, die der Initiative vorwerfen, von der „katholischen“ Lehre abzufallen, die Kirche zu spalten. Andere hingegen – ebenfalls in vielen Weltgegenden – richten mit Neugier und Interesse große Hoffnungen darauf, dass in Deutschland eine freie Diskussion über die Ursachen der globalen Glaubwürdigkeitskrise geführt wird, in der die Kirche aufgrund des gigantischen Skandals sexuellen Kindesmissbrauchs durch Geistliche steckt. Zudem sei dringend über Reformmöglichkeiten nachzudenken, damit die Kirche der Berufung Jesu und den Erfordernissen der Gegenwart besser als momentan entspricht. Die Glaubwürdigkeitskrise zeigt sich in Ländern mit freier Presse und demokratischer Lebenskultur deutlicher als in traditionellen Gesellschaften. Nach langer Vertuschung sind die Verbrechen nun aufgedeckt. Wo genau aber liegen die Ursachen des sexuellen wie des geistlichen Missbrauchs?
Die in Mannheim, Heidelberg und Gießen erstellte, von der Bischofskonferenz beauftragte Studie lenkt den Blick auf drei Felder: eine Zusammenballung der Macht in den Händen weniger Kleriker, die untereinander bestens vernetzt, aber von anderen Gläubigen und von der offenen Gesellschaft abgeschottet sind; eine falsche Auswahl, schlechte Begleitung und strukturelle Überforderung der Priester; eine Sexualmoral, die zwar mit höchsten Ansprüchen auftritt, aber – weil vielfach weltfremd – im Kirchenvolk weitgehend ignoriert wird. Die Bischofskonferenz hat aus der Studie den Vorschlag für drei entsprechende Themenfelder abgeleitet. Es bedurfte einer eigenen Initiative des Zentralkomitees, um ein viertes Thema auf die Tagesordnung zu setzen, das für viele Interessierte das wichtigste und für die katholische Kirche das brisanteste ist: die Zulassung von Frauen zu kirchlichen Diensten und Ämtern.
Alle vier Bereiche sind intensiv durch Studiengruppen vorbereitet worden, um die Probleme zu analysieren, zu benennen und Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Die eigentliche Arbeit beginnt mit der ersten großen Synodalversammlung Ende Januar in Frankfurt am Main.
Die Vorbereitungspapiere sind auf den Internetseiten des Zentralkomitees der Katholiken und der Bischofskonferenz veröffentlicht. Sie werden von einer gemeinsamen Leitidee inspiriert, die aber noch unausgesprochen ist: Die Zeiten einer machtvollen Volkskirche sind endgültig vorbei. Die katholische Kirche hat sich nach der Aufklärung als Klerikerkirche neu erfunden. Ein gutes Jahrhundert hat diese Strategie bestens funktioniert, nun aber nicht mehr.
Kirche in der Falle
Die tiefe Krise des Glaubens gründet nicht nur darin, dass Gott immer eine Frage ist, die Menschen umtreibt, ohne dass sie eine letzte Antwort wüssten. Die Krise zeigt sich ebenso in den Spannungen zwischen der Liberalität moderner Gesellschaften und der traditionellen Glaubensmacht der Kirche. Erschreckend ist, dass diese als Institution ihrerseits den Glauben behindert, weshalb sie für allzu viele Menschen zu einem Ort der Gottesfinsternis und der Gottesleere geworden ist. In ihrer Struktur, ihrer Herrschaftspraxis, ihrem Selbstverständnis, das sich vor 150 Jahren auf dem Ersten Vatikanischen Konzil massiv Ausdruck verschafft hat, wollte sie die Größte, die Erste, die Beste sein – und hat sich eine Falle gestellt, aus der sie das Zweite Vatikanische Konzil bis heute nicht befreien konnte.
Unglaubwürdigkeit ist tödlich. Das Christentum ist eine Religion des Glaubens. Es setzt auf die verborgene Gegenwart Gottes mitten im Leben. Dieser Präsenz hat Gott in Jesus das Antlitz eines Menschen aus Fleisch und Blut gegeben. Die Kirche glaubt, den Heiligen Geist zu atmen, der weht, wo er will. Den Glauben gibt es nur in der ersten Person: „Ich glaube“ und „Wir glauben“. Er kann nur durch Gläubige weitergegeben werden. Er ist eine Vertrauenssache. Wenn Vertrauen zerstört wird – sei es in Institutionen, sei es in Personen –, wie soll da Glaube entstehen?
Gott ist immer schon nah
In den pluralistischen Gesellschaften ist der Glaube nicht eine mehr oder weniger alternativlose Tradition, so dass denen, die zweifeln, einzig die innere Emigration offensteht. Glauben ist eine Wahlmöglichkeit – wenn es gute Gründe für ihn gibt. Die besten Gründe sind Menschen, die glauben: Eltern, Großeltern, Freundinnen und Freunde. Es braucht Orte, über den Glauben zu sprechen, und Orte, ihn nahezubringen. Der Religionsunterricht, in Deutschland überwiegend ordentliches Lehrfach, und die Katechese, in Deutschland intensiv mit den Sakramenten verbunden, bieten strukturell beste Möglichkeiten. Wer weiß, wie es wäre, wenn sich nicht sehr viele Frauen und Männer ehren- und hauptamtlich um die Religion von Kindern und Jugendlichen kümmerten?
Allerdings nimmt die Kirchenbindung ab, das Glaubenswissen ebenso. Die Studie des Freiburger Forschungszentrums Generationenverträge rechnet katholisch wie evangelisch ungefähr mit einer Halbierung der Kirchenmitgliedschaft bis 2060. Verursacht wird das nicht nur durch eine schrumpfende einheimische Bevölkerung. Dass die Taufen zurückgehen und Kirchenaustritte zunehmen, hat auch hausgemachte Gründe. Viele Studien belegen eine geringe Identifikation der Menschen mit den üblichen Formen und Inhalten des Glaubens.
Wer sich mit dem Negativtrend nicht abfinden will, muss auf das setzen, was im Kirchenjargon „Evangelisierung“ heißt. Freilich ist ausgerechnet über dieses Konzept ein Streit ausgebrochen. Heißt „Evangelisierung“, dass die Strukturfragen nicht wichtig sind? Oder müssen sie, so die Mehrheit, gerade deshalb diskutiert werden, weil es um eine glaubwürdige Verkündigung der Frohen Botschaft geht?
Im Neuen Testament hat „Evangelisierung“ einen guten Klang. Nach dem Lukasevangelium schlägt Jesus ihn mit Worten des Propheten Jesaja an, als er vor der Synagogengemeinde seiner Heimatstadt Nazareth predigt und erklärt, er sei gesalbt und gesandt, den „Armen das Evangelium zu verkünden“ und deshalb Kranke zu heilen, Sünden zu vergeben, die Freiheit des Glaubens zu lehren und ein „Gnadenjahr des Herrn“ auszurufen, das nicht nach 365 Tagen endet (Lk 4,18–19; Jes 61,1–2).
Der missionarische Anspruch Jesu ist offenkundig. Aber er belehrt die Menschen nicht von oben herab. Er knüpft an das an, was ihnen wichtig und heilig ist: Gebet und Gastfreundschaft, Kinder und Arbeit, Volk und die Weisungen der Tora. In seiner Botschaft lässt Jesus diejenigen, die ihm zuhören, entdecken, dass ihnen Gott immer schon nahegekommen ist und dass sie all ihre kühnsten Hoffnungen weit übertreffen können, wenn sie auf Gottes Reich setzen.
Die Apostel sind nicht Jesus. Sie haben immerhin dies gewusst, wenngleich das Neue Testament in vielen Szenen zeigt, wie schwer sie sich damit getan haben zu verstehen, wie weit der Heilige Geist ihnen voraus ist, wie weit Jesus ihre Augen öffnet und wie weit Gott ihnen entgegenkommt. Mission ist Dialog: hören auf die Anderen, um mit ihnen das Wort Gottes zu vernehmen; reden, so dass andere es in ihrer Muttersprache verstehen können, wie es beispielhaft an Pfingsten geschah; lehren, indem man lernt, und lernen, um gut zu lehren.
Zu Beginn gab es für das Christentum nicht wenig Konkurrenz: ein vitales Judentum, eine starke griechische Philosophie, eine politisch unterfütterte Religiosität. Paulus war der Stratege, der genau wusste, dass er nicht überreden durfte, sondern überzeugen musste (1 Kor 2,1–5) und dass er dorthin zu gehen hatte, wo die härtesten Konflikte der antiken Gesellschaft ausgetragen, die stärksten Bewegungen ausgelöst und die größten Breitenwirkungen erzielt werden konnten: in die Städte des griechischen Sprachraums vom Osten bis zum Westen der zivilisierten Welt, wie sie damals bekannt war (Röm 15,18–21). Paulus wusste auch, dass er als Einzelkämpfer auf verlorenem Posten gestanden hätte. Daher arbeitete er als Leiter eines Teams, das aus zahlreichen motivierten und kompetenten Mitgliedern bestand. Er setzte auf Frauen und Männer vor Ort in den Gemeinden, die auf inneres und äußeres Wachstum angelegt waren. Er nutzte auch die Kommunikationskanäle zwischen den Gemeinden, ebenso zwischen Kirche und Welt (Röm 16,1–24).
Paulinisch in Form?
Zu nostalgischen Gefühlen gibt Paulus keinerlei Anlass. Er verlangt eine Antwort auf die Frage, wie Männer und Frauen heute so zur Sprache kommen, dass die Freiheit des Glaubens gefördert wird. Die Gegenwart mit der universalen Entdeckung der Menschenrechte und der globalen Bedrohung durch den religiösen Fundamentalismus müsste die große Chance der Kirche sein – für ein synodales Christsein 2020 und in Zukunft. Es gibt keine Entschuldigung, wenn das verpasst wird.
Momentan ist die katholische Kirche weit von der paulinischen Form entfernt, nicht nur in Deutschland. Sie ist ein Koloss auf tönernen Füßen, wenn ihr die Menschen scharenweise den Rücken kehren. Sie fesselt sich selbst, wenn sie ihre Stärken nicht ausspielt. Hier setzt der „synodale Weg“ an, getreu dem jesuanischen Leitgedanken: „Was siehst du den Splitter im Auge deines Nächsten, aber den Balken im eigenen Auge siehst du nicht?“ (Mt 7,3; Lk 6,41). Die katholische Kirche ist – nicht nur bei Klerikern – in einem Klerikalismus gefangen, der angeblich typisch katholisch, in Wahrheit aber eine Erfindung des 19. Jahrhunderts ist. Klerikale Macht wird moralisch und spirituell überhöht. Priester werden heillos überfordert. Laien werden auf die hinteren Plätze verbannt.
Wo bleibt das Charisma der Frauen, die ihre eigenen Sichtweisen auf Gott und die Welt haben? Wo bleibt die Stimme der verheirateten und unverheirateten Männer, die ihrem Beruf nachgehen und einiges mehr von der Verantwortung vor Gott mitten in der Welt wissen als diejenigen, deren Denken um die Kirche kreist? Wie viel Glaubwürdigkeit würde ein Bischof gewinnen, wenn er nicht ohne die Zustimmung des Kirchenvolkes ernannt würde? Was sollte er an Autorität verlieren, wenn er einen Haushalts-, einen Pastoral- und einen Personalplan einem demokratisch gewählten Gremium aus Priestern und Laien vorlegen müsste, um für eine Mehrheit zu werben? Einsame Entscheidungen würden seltener, Korruption würde bekämpft, Verantwortung würde geteilt und dadurch gestärkt.
Großes Risiko, große Chance
Wo können diese Fragen in aller Ruhe und Offenheit besprochen werden? Ob eine Synode, ein Plenar- oder ein Partikularkonzil anberaumt wird – immer wird eine Klerikermehrheit gesichert, immer muss die Tagesordnung zur Genehmigung Rom vorgelegt werden. Wie soll das funktionieren, wenn alles auf den Tisch kommen muss und wenn die Klerikermacht Teil des Problems, aber nicht der Lösung ist?
Der „synodale Weg“ ist institutionell schwächer geregelt als eine Synode. Genau deshalb kann er konzeptionell stärker wirken. Das Entscheidungsrecht der Bischöfe für ihre Diözesen ist unbenommen – desto klarer müssen sie vor ihren Gläubigen Rechenschaft davon ablegen, wie sie mit den Beschlüssen der Synodalversammlung umgehen. Ob der Zölibat regional unterschiedlich gehandhabt werden kann, je nach seelsorglichen Erfordernissen, wird sich nach der Amazonas-Synode zeigen, auf der die Frage aufgeworfen worden ist. Dass die Frauenordination eine weltkirchliche Angelegenheit ist, bestreitet niemand. Aber es muss deutlich werden, wo die Kirche in Deutschland hinwill. Dann muss Rom Farbe bekennen. Die Verantwortung des Vatikan ist es, im Interesse der seelsorglichen Praxis zu entscheiden, also im Sinn der vielen Frauen und Männer, die sich einzubringen bereit sind. Noch.
Der „synodale Weg“ ist eine große Chance und ein großes Risiko. Das eine gibt es nicht ohne das andere. Entscheidend ist zum einen die Qualität der Theologie: Sie muss die Zeichen der Zeit im Licht der Heiligen Schrift und der kirchlichen Tradition deuten. Entscheidend ist zum anderen die Qualität der Beteiligung sowohl auf dem „synodalen Weg“ selbst als auch weit über die Mitglieder der Synodalversammlung hinaus in den Gemeinden und Verbänden, vor allem bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
Eine Kerze für den „synodalen Weg“ ist angezündet worden. Wo wird sie aufgestellt? Jesus hat in der Bergpredigt gefordert: „nicht unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter; dann leuchtet sie allen im Haus“ (Mt 5,15).