So ganz nimmt man ihm die Bescheidenheit nicht ab. „Ich, Hans Baldung, genannt Grien, Moler“. Mit diesen einfachen Worten stellte sich der Künstler 1516 in einem Schreiben vor. Nur ein kleiner „Moler“ also? Ein demütiger Arbeiter im Weinberg des Herrn? Kokettiert da einer? Das Autograf, also das eigenhändige Dokument, lohnt jedenfalls einen zweiten Blick – wie es bei Baldung eigentlich immer der Fall ist. Ausgesprochen formvollendet hat der Künstler seine Worte aufs Blatt gesetzt. Und an zwei, drei Stellen in der ersten Zeile machte er aus einzelnen Buchstaben kleine Kunstwerke mit Schnörkeln und extremen Überlängen. Vor allem ganz am Anfang, beim Wort „Ich“…
Als Hans Baldung diese Zeilen schrieb, war er gerade mal Anfang dreißig und auf der Höhe seines Schaffens. Soeben hatte er das bedeutendste und prestigeträchtigste Kunstwerk seiner Zeit gemalt: den Hochaltar im Freiburger Münster. Selbst der Kaiser in Wien hörte davon und berief den jungen Mann in den erlauchten Kreis der Künstler, die sein „Gebetbuch“ bebildern sollten. Albrecht Dürer, Lucas Cranach, Hans Burgkmair, Albrecht Altdorfer gehörten dazu. In nahezu allen damals verfügbaren „Medien“ hatte Baldung seine Meisterschaft bewiesen: in der Malerei, auf Glas, in der Druckgrafik sowieso. Und dabei lieferte er jedes Mal nicht nur klassische Schönheit, souveränen Umgang mit dem Erwarteten. Sondern Baldung variierte die überkommenen Motive, entwickelte sie intelligent weiter, immer tiefsinnig, oft eigensinnig.
Ein „Superstar“ seiner Zeit sei er gewesen, ein Virtuose, ein „Rockidol“. So dichtete der Popsänger Falco einst über Mozart. Bei Hans Baldung dürfte es nicht groß anders gewesen sein. Warum sollte ausgerechnet er ganz hinter sein Werk zurücktreten? Wenn man beispielsweise sieht, wie er sich in einem seiner berühmten Pferde-Holzschnitte verewigt hat – keck hinter einem Baumstamm hervorlugend –, dann kann man nicht anders, als sich den Künstler als einen schlauen, ja gewitzten, kreativen, humorvollen Kopf vorzustellen. Als einen, der „mit allen Wassern gewaschen“ war – und durchaus um seine Klasse wusste.
Doch sicher ist bei diesem Künstler ausgesprochen wenig. Das hat er mit einem berühmten Zeitgenossen gemeinsam, Matthias Grünewald, dem Schöpfer des Isenheimer Altars. Vom „Rätsel Grünewald“ sprach einst eine Ausstellung in Aschaffenburg. Auch Hans Baldung bleibt ein Stück weit so ein Geheimnis, in das die Staatliche Kunsthalle Karlsruhe nun aber doch mehr Klarheit bringt. Vor allem zeigt sie mit einer großartigen Schau, welch ungeheure Schaffenskraft und Bandbreite der Künstler hatte.
Dass gerade die Karlsruher Galerie diese große Baldung-Ausstellung ausrichtet, ist alles andere als ein Zufall. Schon vor sechzig Jahren fand hier die erste und einzige Retrospektive zu ihm statt. Das Museum ist mit dem größten Bestand an Baldung-Werken überhaupt gesegnet. Für die aktuelle Schau kamen 170 Leihgaben aus dem In- und Ausland dazu. Diese Fülle ermöglicht geradezu eine Offenbarung: Wer von Hans Baldung bislang vor allem die Altarbilder kannte, ist geradezu erschüttert über die Vielschichtigkeit seines Werks. Und über die Stärke, die es immer noch ausstrahlt. Hans Baldung ist keiner, der bloß in seiner Zeit herausragend war. Nein, er rührt auch jetzt den Betrachter noch an. Wenn man so will: Hans Baldung „rockt“ bis heute…
Schon der Auftakt der weitgehend chronologisch aufgebauten Ausstellung ist spektakulär. Fast schon in Form einer Intervention haben die Verantwortlichen ein Porträt mitten in den Gang gestellt (unser Bild auf Seite 6). Ein forscher junger Mann blickt dem Besucher in die Augen: Hans Baldung, wie er sich um 1501/1502 selbst gezeichnet hat. Sechzehn oder siebzehn Jahre war er da jung. Intelligenz, ein wacher Geist sprechen aus dem Bild, auch eine gewisse Selbstsicherheit, die Entschlossenheit, den Weg des Künstlers gehen zu wollen. Das entspricht dem Sohn einer verzweigten humanistischen Gelehrtenfamilie, die Geistliche, Juristen, Ärzte hervorgebracht hat. Hans Baldung stammt aus der Reichsstadt Schwäbisch Gmünd, geboren wurde er 1484 oder 1485. Hier, im württembergischen Schwaben, hat er wohl eine erste künstlerische Ausbildung erhalten, vielleicht bei Bernhard Strigel (um 1460–1528) in Memmingen. Oder ist die Familie bald nach Baldungs Geburt nach Straßburg gezogen? Ist Hans im Elsass aufgewachsen und hat in einer der dortigen Werkstätten seine Malerlehre begonnen? Gerade die frühen Jahre bleiben biografisch im Dunkeln.
Seine Lehrer dürften jedenfalls bald das außerordentliche Talent des jungen Mannes erkannt haben. Um ihn weiter zu fördern, schickten sie Baldung zum Besten seiner Zeit, dem europaweit bekannten Albrecht Dürer (1471–1528) nach Nürnberg. 1503 trat er für fünf Jahre als Geselle in dessen Werkstatt ein. Von Dürer hat Baldung wohl auch seinen Beinamen „Grien“ erhalten: Als „Grünhans“ war er fortan von den anderen Männern mit dem Vornamen Hans in der Werkstatt zu unterscheiden. Aber warum gerade Grün? Weil er sich einst mit dem Selbstporträt auf grünem Hintergrund bei Dürer beworben hat? Weil er sich selbst in einem Bild im grünen Mantel in Szene setzte? Weil er gerne grüne Kleider trug? Oft die grüne Farbe verwendete? Weil er – trotz allem – noch ein bisschen grün hinter den Ohren war? Auch das wissen wir letztlich nicht.
In Dürers Werkstatt war Baldung sicher nicht das, was man sich unter einem Schüler im engeren Sinn vorstellt, erläutert der Ausstellungsmacher Holger Jacob-Friesen. Dafür war er selbst als Künstler schon zu eigenständig. Dennoch hat Baldung zweifellos von seinem Nürnberger Meister profitiert und sein eigenes Schaffen in der Auseinandersetzung mit dessen Werk weiterentwickelt. Vor allem in zahlreichen Druckgrafiken kann man in Karlsruhe das Verhältnis der beiden Künstler studieren. „Während sich Dürer vielfach an klassischen Vorbildern orientiert und einen gewissen Hang zur Idealisierung hat, ist Baldung stärker an Gefühlen und Fantasien, Begierden und Trieben, Sinnlichkeit und Erotik interessiert“, so Jacob-Friesen. Anders gesagt: Baldung griff schon damals ins volle Leben: mit seinen höchsten Höhen und seinen tiefsten Abgründen. Sein gesamtes Werk ist zwischen den Polen „heilig – unheilig“ aufgespannt, wie der treffende Titel der Karlsruher Schau lautet.
1509 ging Baldung nach Straßburg (zurück?). Jetzt gibt es zum ersten Mal amtliche Quellen über ihn, etwa dass er das Bürgerrecht der Stadt erworben hat. Auch dass er Margarethe Herlin, Tochter einer angesehenen Straßburger Familie, heiratete, ist verbrieft. Aber schon bei der Frage, ob das Paar Kinder hatte, kehren die Ungewissheiten wieder. Der Historiker Casimir Bumiller neigt in dem hervorragenden Aufsatzband, der die Karlsruher Schau begleitet, der These zu, dass Hans Baldung sich selbst mit seinem Sohn auf der Kreuzigungstafel des Freiburger Hochaltars ins Bild gesetzt hat.
Deutlich fassbar ist dagegen wieder, wie Baldung in dieser Zeit seine Position als Künstler festigte und ausbaute. Er erhielt wichtige Aufträge, die ihm weiteres Ansehen brachten. Für das badische Herrscherhaus etwa malte er die sogenannte Markgrafentafel: Christoph I. mit seiner Familie bei der Verehrung der heiligen Anna, ihrer Tochter Maria und des Jesuskindes. Ein Hauptwerk aus dieser Zeit sind drei Altartafeln für die „Johanniter-Kommende“, ein Zentrum mystischer Frömmigkeit vor den Toren der Stadt, das sogar von Kaiser Maximilian I. direkt unterstützt wurde. Das mittlere Bild zeigt die sogenannte Gregorsmesse: Papst Gregor der Große soll am Altar in einer Vision Christus als Schmerzensmann gesehen haben. Baldung hat das anrührend dargestellt. Wer die Tafel betrachtet, kann nicht anders als zu glauben, dass das Erlösungswerk Jesu hier und heute geschieht, es wirklich in der Eucharistiefeier vergegenwärtigt wird (wenn auch das Opferverständnis in dem Bild uns heute zu Recht fremd ist).
Die Geschichte des Triptychons – auf den Flügeln sind Johannes der Täufer beziehungsweise Johannes der Evangelist zu sehen – illustriert im Übrigen die herausragende Leistung der Karlsruher Museums-Verantwortlichen, die mehr als zehn Jahre an dieser Ausstellung gearbeitet haben. Im Laufe der Jahrhunderte wurden die Tafeln nämlich getrennt. Zufällig kamen sie alle in amerikanische Museen: nach Washington, New York und Cleveland. Für die Karlsruher Schau sind sie erstmals wieder vereint.
1512 zog Hans Baldung mit seiner Frau nach Freiburg. Die Münsterpfleger hatten ihn beauftragt, einen Altaraufsatz für den neu gestalteten Chorraum zu schaffen. Das Gotteshaus hat „Unsere liebe Frau“ als Patronin, und so setzte Baldung Maria prominent in Szene. Im Zentrum steht eine Marienkrönung, im geschlossenen Zustand zeigen die Tafeln Szenen aus ihrem Leben. Vor allem das Weihnachtsbild offenbart das ganze Können des Künstlers. Baldung lässt die Geburt Jesu in der Nacht stattfinden, was künstlerisch damals noch eine Seltenheit war. Die einzige Lichtquelle in dem Bild ist das Kind in der Krippe. Hier wird bereits erfahrbar, was Jesus laut Johannes-Evangelium (8,12) später sagen wird: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ Zugleich hat Baldung das Kind auf ein großes weißes Tuch gelegt, das eigentlich keine Windel oder Decke sein kann. Es lässt vielmehr an ein Leichentuch denken – ein theologisch richtiger und wichtiger Vorausblick auf die Passion, den Baldung in späteren Bildern noch steigern wird. „Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt“ – aber die Welt erkannte es nicht, die Seinen nahmen es nicht auf (vgl. Joh 1).
In der Ausstellung ist der Freiburger Altar freilich nur in einer digitalen Version zu sehen. Das ist in dem Fall kein Nachteil: Denn dank der Technik kommt man dem Werk viel näher, als es beim Original im Münster je möglich wäre. Die Besucher können die einzelnen Tafeln am Bildschirm öffnen und schließen, die Details vergrößern. Ein sinnvoller Einsatz moderner Technik.
Sechs Jahre blieb Hans Baldung in Freiburg. Es wurde seine produktivste Zeit. Denn neben dem Hochaltar schuf er eine Fülle weiterer Werke, darunter mehrere Glasfenster für die Freiburger Kartause, etwa mit einer ergreifenden Maria als Schmerzensmutter. Die Gemälde wurden ab dieser Zeit immer feiner, virtuoser. Es ist zu spüren, dass Baldung sie nicht einfach zur meditativen Betrachtung malte. Sie sollten ausdrücklich als Kunstwerke gewürdigt werden, erläutert Holger Jacob-Friesen. So staunt man zum Beispiel beim „Blumenwunder der heiligen Dorothea“ (das Bild wird auf 1516 datiert) vor allem darüber, wie viele verschiedene Zustände von Schnee der Künstler darstellen kann.
Atemberaubend ist Baldungs Darstellung der Sintflut (ebenfalls auf 1516 datiert, unser Bild auf Seite 7). Mit diesem Bild wird man wohl nie „fertig“ – derart viel ist zu sehen. Im Mittelpunkt steht die Arche, der Baldung die ungewöhnliche Form einer Renaissancetruhe mit Eisenbeschlägen gegeben hat. Drumherum wogt das Wellenmeer der steigenden Fluten. Menschen und Tiere kämpfen um ihr Überleben. Baldung hat all das extremst fein gemalt, viele Köpfe der Ertrinkenden sind nur mit wenigen Punkten hingetupft. Man kann die Details in der Darstellung gar nicht alle aufzählen. Beispielhaft sei der Mann erwähnt, der es schwimmend zur Arche geschafft hat. Selbst an die Wassertropfen, die von seinen Füßen und seiner Hose abfallen, hat der Künstler gedacht.
Auch die Begegnung einer jungen Frau mit dem Tod, die Baldung seit 1513 drei Mal gemalt hat, wird mit jeder Umsetzung immer gewagter, ja radikaler. Sie geht aus mittelalterlichen Totentänzen hervor, die den Betrachter an sein sicheres Ende erinnern wollen. Memento mori. Mache dir bewusst, dass du irgendwann, womöglich plötzlich, gehen musst. Alle müssen sterben, unabhängig von ihrem Stand, mögen sie auch heute, wie in diesem Fall, schön und begehrenswert sein.
Die letzte Tafel dieser „Serie“ – das rechte Bild unserer Titelseite (Seite 5) – ist etwas später entstanden. Sie zeigt im Hintergrund der dramatischen Szene einen Stamm. Ist es der Baum der Erkenntnis, unter dem die Sterblichkeit des Menschen ihren Anfang nahm? Baldung ist diese Anspielung durchaus zuzutrauen, schreibt der Basler Kunsthistoriker Bodo Brinkmann im Katalog. Für unser Titelblatt haben wir es deshalb auch mit einer Darstellung des Sündenfalls in Dialog gebracht (um 1531). Das passt zu Baldung, von dem Brinkmann schreibt, dass er „ein Intellektueller war, der mit seinen Bildern Themen mehrfach aufgriff, um sie jeweils von Grund auf neu zu durchdenken“.
Hier geht es ums Existenzielle, um die ganz großen Fragen: Schöpfung und Tod, Lieben und Sterben. In der biblischen Erzählung besteht der Sündenfall des Menschen darin, dass er wie Gott sein will, ja, dass er meint, alles besser zu wissen als Gott. Baldung fügt dem eine erotische Dimension hinzu. Er stellt die Liebe in ihrer Mehrdeutigkeit von Anziehung, Begehren und Triebhaftigkeit dar. Was später als Wolllust Todsünde genannt wird, führt demnach ins Verderben. Was brachte ihn zu dieser Deutung? Lebensgeschichtliches? Eigenes Nachdenken? Die Theologie seiner Zeit? Die patriarchale Gesellschaft?
Von dieser Darstellung ist es nicht weit zu den Hexenbildern, die Baldung seit 1510 immer wieder malte: Frauen in freizügiger, manchmal obszöner Pose. Die Menschen des Spätmittelalters beziehungsweise der Frühen Neuzeit waren überzeugt, dass es Frauen gab, die mit dem Teufel im Bunde waren. Theoretisch „unterfüttert“ wurde diese Vorstellung von Schriften wie dem „Hexenhammer“ des Dominikanermönchs Heinrich Kramer (1487 erschienen). Frauen, so schrieb dieser beispielsweise, würden in besonderer Weise den Versuchungen des Teufels unterliegen. Er „argumentierte“ dafür mit Bibelstellen, die er frauenfeindlich interpretierte. Ihnen wurden direkt die drei Todsünden (eigentlich: Laster) Unglaube, Neid und Wolllust zugeschrieben. Abenteuerlich ist auch Kramers Herleitung des lateinischen Wortes femina für Frau. Angeblich setze es sich aus fides (Glaube) und minus (weniger) zusammen. Frauen seien also diejenigen, die weniger Glauben haben. Am Ende seiner verhängnisvollen Schrift kam Heinrich Kramer zu dem Schluss: „Schlecht also ist die Frau von Natur aus, da sie schneller am Glauben zweifelt, auch schneller den Glauben ableugnet. Das ist die Grundlage für die Hexen.“ Vor diesen dämonischen Frauen, letztlich vor allen Frauen, sei zu warnen, damit sie die braven Männer nicht ins Verderben stürzten.
Es verbietet sich, solche abseitigen theologischen Gedanken als vor-vorgestrigen zugespitzten Ausdruck patriarchaler Machtdemonstration bloß mit einem ungläubigen Kopfschütteln abzutun. Denn sie zeitigten real furchtbare Folgen. Frauen wurden gefoltert, bis sie „gestanden“, eine Hexe zu sein und man sie „legal“ hinrichten konnte. Dass auch Hans Baldungs Bilder in diesem System eine Rolle spielten, kann man nicht ausschließen. Sie sind jedenfalls nicht so harmlos, wie sie dem heutigen Betrachter erscheinen. Auch wenn man festhalten kann: Baldung wollte mit seinen Bildern sicher weniger vor Hexen warnen, schon gar nicht Frauen allgemein verurteilen. Vielmehr sah er darin eine Gelegenheit, nackte Frauen darzustellen, die Schaulust zu befriedigen. Er hatte also wohl vor allem ein künstlerisches Interesse am Thema.
Doch so ganz unverdächtig scheinen dem Meister die Frauen dann auch wieder nicht gewesen zu sein. „Die gefährliche Verführungskraft der Frau ist in Baldungs Bildfindungen aller Werkphasen ein wichtiges Thema“, schreibt die Kunsthistorikerin Johanna Scherer im Katalog. Zur Ehrenrettung sei gesagt, dass er vereinzelt auch die andere Seite zeigte: die Frau als Opfer eines lüsternen alten Mannes.
1518 kehrte Hans Baldung nach Straßburg zurück. Im selben Jahr wurden dort die ersten Luther-Schriften nachgedruckt und verbreitet. Immer stärker setzte sich in der Stadt die Reformation durch, 1524 gab es einen großen Bildersturm, also die breit angelegte Zerstörung von Darstellungen des „alten“ Glaubens. Für viele Maler und Bildhauer war diese Entwicklung existenzbedrohend, denn die „alte“ Kirche als bilderfreundliche Auftraggeberin fiel weg. Baldung jedoch hatte sein Werk breit angelegt, so dass ihn die Reformation nicht arbeitslos machte. Diese Tendenz verstärkte er in den kommenden Jahren noch, etwa indem er antike Mythen ins Bild setzte – gefragte Motive bei humanistisch gebildeten Bürgern. Auch Porträts von Adligen und anderen bedeutenden Persönlichkeiten der Region führte er aus, inzwischen oft in manieristischem Stil.
Es ist jedoch bemerkenswert, dass auch in dieser späten Schaffensphase etliche religiöse Bilder entstanden sind. Anscheinend hatte Baldung immer noch vereinzelte „altgläubige“ Auftraggeber, sicher auch jenseits des Rheins, in Baden. Doch gerade in diesen späten Bildern scherte sich der Künstler fast gar nicht mehr um die künstlerische Tradition und die Konventionen. Rätselhaft, befremdlich – man könnte beinahe sagen: modern – wirkt zum Beispiel „Maria mit Kind und Papageien“ aus dem Jahr 1533 (Seite 8). Da ist nichts Liebliches. Fast schon verstörend ist es, wie der auffallend herangewachsene Jesusknabe an Marias Brust saugt und dabei den Betrachter fixiert. Natürlich, das Motiv gibt es in der Kunst: Maria lactans, stillende Maria genannt. Aber so? Auch Papageien kamen in traditionellen Marienbildern vor, als Symbol der Jungfräulichkeit. Doch galten sie genauso als „Liebesvögel“. Und erinnert der Engel, der sich im Schleier von Maria verfangen hat, nicht ein wenig an Amor? Bleibende Fragen, Uneindeutigkeit, die den Künstler bis heute interessant macht.
Bei den im engeren Sinn religiösen Bildern geht es ähnlich spannend zu, etwa bei der bereits erwähnten Darstellung des Sündenfalls (Seite 5). Auch hier begegnet wieder die Frau als Verführerin. Adam, der Mann, ist ihren Reizen fast schon erlegen. Direkt schaut er den Betrachter an, als wollte er fragen: „Und wie steht es mit dir? Kannst du standhaft bleiben? Oder ist es auch um dich geschehen?“ In anderen Umsetzungen des Themas ist Baldung noch weiter gegangen. In einem Holzschnitt bietet Eva den Apfel nicht Adam an – sondern dem Betrachter. Und auf wieder einer anderen Darstellung, einer Federzeichnung, fehlt Adam ganz. Wir, die Betrachter, sind Adam.
1545 starb Hans Baldung in Straßburg. Unter großer öffentlicher Teilnahme wurde er auf dem evangelischen Friedhof Sankt Helena beigesetzt. Nach seinem Tod jedoch vergaß man ihn rasch – ähnlich wie Matthias Grünewald, aber anders als Albrecht Dürer. Erst im 19. Jahrhundert besann man sich wieder auf ihn. Und immer noch sind neue Seiten an Baldung zu entdecken. Die große Ausstellung in Karlsruhe ist dazu die beste Gelegenheit.
Warum sich das lohnt? Nicht allein aus historischem Interesse, nicht nur der Bildung wegen. Der Kunsthistoriker Joseph Leo Koerner bringt es im Aufsatzband auf den Punkt: „Es gehört zu den für Baldung charakteristischsten Gesten, den Betrachtern seiner Werke das Gefühl zu vermitteln, dass sie deren eigentliches Thema sind.“ In beinahe jedem Bild ist zu spüren, dass der Maler nicht einfach vergangene Ereignisse darstellen wollte. „Es betrifft uns direkt.“
Die Ausstellung „heilig – unheilig“ ist bis 8. März 2020 in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe zu sehen. Ergänzt wird die Werkschau durch eine Begleitausstellung für Kinder und Jugendliche.