Beten in der EpidemieChrist sein vor dem Corona-Virus

Manchmal wird der Trott des Lebens jäh unterbrochen, mit Furcht und Zittern. So auch jetzt durch den geheimnisvollen Erreger, der sich weltweit sehr leicht ausbreitet. Wie wird dadurch der religiöse Glaube infiziert – oder inspiriert?

Was Fachleute schon vor Wochen voraussagten, ist eingetreten: Das Corona-Virus, gegen das es beim Stand der Dinge noch kein Heilmittel und keine vorbeugende Impfung gibt, hat sich rund um den Erdball ausgebreitet. Das ist der Preis der Globalisierung, die – fast – alle Enden der Welt miteinander verbindet durch Tourismus, Geschäftsreisen, Politik-Konferenzen, wissenschaftlichen und kulturellen Austausch sowie transnationale Unterhaltungs-(Mega-)Events: Begegnung von Angesicht zu Angesicht. Während die Pest zur Zeit der großen Epidemien zwischen dem sechsten und achten, später im vierzehnten/fünfzehnten Jahrhundert und dann zu Beginn der Neuzeit vorwiegend in Europa wütete, können die heutigen Seuchen wegen der gesteigerten Mobilität und raschen Anbindung durch den Flugverkehr rasant von Kontinent zu Kontinent übergreifen.

So ist auch jetzt nicht sicher, wer, allenfalls regional begrenzt, verschont bleiben könnte. Einige Hochrechnungen sehen – über einen längeren Zeitraum – sechzig bis siebzig Prozent der Bevölkerung angesteckt, wobei die Verläufe unterschiedlich sein können – von harmlos bis tödlich. Momentan widersprechen sich die Statistiken, wie hoch die Sterblichkeitsrate tatsächlich ist. Sie schwankt gemäß diesen Angaben vom Promillebereich bis zu knapp sieben Prozent, abhängig anscheinend von der jeweiligen Notfall-Intensivversorgung. Manche nehmen das Schicksal sorglos hin. Unverbesserliche meinen, sich nicht an die empfohlenen oder staatlich erzwungenen Maßnahmen halten zu müssen. Wieder andere geraten in Hysterie, Panik. Das Unheimliche rückt allerorten bedrohlich näher. Selbst unter den Besonnenen wächst das Unbehagen, weil bei aller Rationalität vieles unberechenbar bleibt, die Aussagen der Experten hin- und herschwanken, sich teilweise widersprechen.

Da hilft – nur noch – beten? Der Erreger hat inzwischen neben der Wirtschaftswelt auch die religiöse Welt heftig getroffen. In vielen Ländern wurden öffentliche Gottesdienste ausgesetzt beziehungsweise untersagt. Kirchliche Veranstaltungen sind gestrichen. Das Leben in seinem liturgischen Jahreslauf gerät durcheinander. Eine Fastenzeit ohne Bußgottesdienste? Demnächst Ostern ohne Auferstehungsfeier? Fällt die Erstkommunion am Weißen Sonntag aus, die Konfirmation in den nächsten Wochen? Eine Bischofsweihe nur noch im kleinen Kreis? Selbst ein Papst zieht sich zurück und kommuniziert mit den Gläubigen nur noch über Videowand und Internet. Die rationale Verantwortung legt nahe, das Gottvertrauen nicht zu überdehnen.

Sind wir kleingläubig geworden?

Dennoch regt sich auch Widerstand: Sind die Getauften schon so kleingläubig geworden, dass sie selbst den Gang ins Gotteshaus aus Furcht vor Viren auf der Türklinke scheuen? Sind sie geistig-geistlich bereits so geschwächt, dass sie Gott nicht mehr zutrauen, in seiner Vorherbestimmung recht zu handeln, seinem Heilswillen treu zu bleiben? Mit der Kirchenwelt ist im Innersten die Glaubenswelt in Mitleidenschaft gezogen worden. Corona offenbart, wie traditionelle Glaubensverständnisse und konventionelle Glaubensweisen manchmal noch beharrlich verteidigt werden, da und dort unterschwellig nachwirken, vielfach jedoch bereits zerbrochen sind. Die Vorstellungswelten driften selbst innerhalb derselben Kirchengemeinschaft auseinander, sind in ihrer Widersprüchlichkeit nicht mehr miteinander zu harmonisieren. Greift Gott ein? Wo war, wo ist Gott, als er nicht da war, wenn er nicht eingreift?

Die rumänische orthodoxe Kirche zum Beispiel veröffentlichte eine Stellungnahme des Patriarchen Daniel vor allem an „diejenigen, ‚deren Glaube schwach ist‘ (Römer 14,1)“ und die fürchten, in der Göttlichen Liturgie, vor allem beim Empfang der eucharistischen Gaben von Leib und Blut Christi in den Gestalten von Brot und Wein angesteckt zu werden. Die „Heilige Eucharistie“ sei „keine Quelle von Krankheit und Tod …, sondern eine Quelle neuen Lebens in Christus“, versuchte der Patriarch, die skeptischen Gläubigen zu beruhigen. „Deshalb singen wir ja, während die Gläubigen die Heilige Kommunion empfangen: ‚Empfangt den Leib Christi, kostet den Brunnen der Unsterblichkeit!‘“ Daher bleibe man bei der Regelung, mit einem gemeinsamen Löffel aus demselben Kelch zu schöpfen. „Und die Priester werden allen Gläubigen erklären, dass diese Art der Teilnahme an der Eucharistie für niemanden eine Gefahr war und auch nicht für sie sein wird.“ Ebenso dürfe die Praxis, Ikonen zu küssen, beibehalten werden, weil die Gläubigen „das Gebet und den Segen der auf den Ikonen dargestellten Heiligen“ genießen. Die Priester sollten den Gläubigen die Angst nehmen, „um ihren Glauben zu stärken und die kirchliche Gemeinschaft zu vergrößern“. Ist das Realitätssinn wider die Hysterie, magische Befangenheit oder schlichtweg Weltfremdheit?

In den Vereinigten Staaten von Amerika machte eine katholische Journalistin Bischöfen den Vorschlag: „Machen Sie die Prozession mit dem Allerheiligsten durch die Straßen Ihrer Stadt. Gehen Sie hinaus mit Jesus und beten Sie um Gottes Barmherzigkeit und Schutz. Erheben Sie den Herrn! Sie haben apostolische Autorität, benutzen Sie sie. Wo bleibt Ihr Glaube an das Übernatürliche?“ Der texanische Bischof Joseph E. Strickland von Tyler hat das auf Twitter weiterverbreitet und jeden katholischen Priester dazu aufgerufen, „eine einfache eucharistische Prozession um seine Kirche“ anzuregen und anzuführen.

Scharlatanerie mit Exorzismus

Im brasilianischen Porto Alegre wiederum bietet laut Katholischer Nachrichten-Agentur eine evangelikale Kirchengemeinde eine Salbung mit gesegnetem Öl an, das die jeweiligen Personen vor einer Corona-Infektion schützen soll. Inzwischen wird gegen die betreffenden Kirchenführer wegen Scharlatanerie ermittelt. In Malawi hat ein selbsternannter Prophet einer Freikirche damit begonnen, das Virus als Dämon zu „identifizieren“ und auszutreiben: „Ich stehe hier und befehle diesem Dämon herauszukommen. Du wirst verschwinden im Namen Jesu“, so ist der Exorzismusspruch überliefert.

Wie auch immer man die religiösen Ansichten, mit der Bedrohung umzugehen, deuten mag – sichtbar wird, in welcher religiösen, christlichen, ja selbst innerkatholischen Ungleichzeitigkeit die Menschen leben, in sehr verschiedenen Verstehenswelten und Verstehensmodellen, Paradigmen: mythologisch oder aufgeklärt, magisch oder rational, wundersüchtig oder empirisch sachlich. Wo mutiert der Glaube zum Aberglauben? Nach wie vor gibt es die schlichte Volksfrömmigkeit, die ein übernatürliches Eingreifen Gottes in den Lauf der Geschichte und in die Naturgesetze für möglich hält und meint, das durch Bittgebete zumindest anregen zu können. Daneben gibt es eine eher intellektuell ausgerichtete, philosophisch und naturwissenschaftlich imprägnierte Hochreligiosität, die um ein Glaubensparadigma ringt, das Licht aus dem Horizont moderner Welterfahrung empfängt, diese jedenfalls nicht verdunkelt. Die Turbulenzen im Wandel religiöser Anschauungen sind nicht mehr zu beschwichtigen. Und sie fordern mehr und mehr Kirche wie Theologie heraus, ob und inwiefern sie bereit sind, sich auf diese Veränderung, die keineswegs eine bloß äußerliche der Form ist, einzulassen. Das betrifft die Sakramente ebenso wie Lehre und Amt. Nicht zuletzt das gemeinschaftliche wie individuelle Beten. Hilft Beten? Oder ist es doch nur ein „Selbstgespräch“, eine Methode, ein Ritual der Psychohygiene, um sich selbst zu beschwichtigen gegen die Angst?

Gott um Gott bitten

Wegbeten oder Herbeibeten hilft nicht. Das mussten schon die Baalspriester erfahren, die mit viel Geschrei zur Anrufung ihrer Gottheit einen großen Tanz aufführten, um eine Offenbarung zu erhalten, aber im Stich gelassen und von Elia peinlich blamiert wurden. Heutzutage mag dem einen das fürbittende Beten noch den Glauben stärken, dem anderen aber wird es ihn eher zerstören. Was aber ist rechtes Beten? Ein anderes Beten als die oft so flachen, „zeitaktuell“ formulierten, jedoch meistens trivialen, ja infantilen Muster, die leider zunehmend in den Gottesdiensten verbreitet werden.

Für den Theologen Johann Baptist Metz war wahres Beten ein existentieller Aufschrei der Seele angesichts des Leidens. Ein Protest auch gegen die Leidverdrängung in unserer Wohlstandskultur, die jetzt abrupt von Leid und möglichem Leid in geweiteten Dimensionen aus dem Schlaf der Sicherheit gerissen, erschüttert wird. Eine existentielle Unterbrechung der Wohlfühlgesellschaften. Beten ist ebenfalls eine Unterbrechung: gegen den Trott der Gottvergessenheit, ja gegen den Tod Gottes: „Was geschieht, wenn die Kindheitsträume zerfallen, die einen bislang mit der Welt vertrauensvoll versöhnt hatten? Was geschieht, wenn die fugendichte Normalität des Lebens einen Riss bekommt“, fragte Metz in seinem Aufsatz: „Gott um Gott bitten“ („Mystik der offenen Augen“, Gesammelte Schriften, Band 7), einem sehr persönlichen Glaubenszeugnis. „Was, wenn der Glaube nicht mehr auf einem naturwüchsigen Vertrauen ruhen kann?“ Wird dann alles, was man bis dahin gelebt und gehofft hat, zu einer großen Lüge? Gott selbst?

Immer liegt – so Metz – „ein Hauch von Unversöhntheit“ über der Glaubensgeschichte: „Gebete sind für sie vor allem Gebete des Vermissens, des Gott-Vermissens … Meine Gebete sind bis heute durchdrungen von diesem lautlosen Schrei.“ Letzten Endes laufe alles darauf hinaus, „Gott um Gott zu bitten“, „Gott also um ihn selbst zu bitten“. Damit aber gibt der Glaube seine Infantilismen, seine oft untergründig nachschleichenden, den Zweifel weckenden magischen Vorstellungen auf. Es ist ein einschneidender, aber notwendiger Paradigmenwechsel: „Es ist also allemal, wenn überhaupt, mit einem nicht passenden Gott zu rechnen, mit einem Gott, … der uns nicht einfach ein Innewerden unserer selbst ohne jegliches Erschrecken vergönnt, der nicht nur jubeln, sondern auch schreien und schließlich verstummen lässt“ – wie der verstummende Schrei Jesu am Kreuz.

Nicht glücklich, aber Lebensglück

In diesem Sinn könnte das Corona-Virus mitsamt der es umrankenden existentiellen Angst durchaus ein Anlass sein, das eigene Leben und Glauben kritisch zu überprüfen, um es herauszuführen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Auch auf dem Feld der Gottesfrage hat jeder sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Es handelt sich um ein ewiges Ringen um Gott, um einen Kampf um Gott, darum, das Glauben – ein Tätigkeitswort im Prozess – nicht aufzugeben. Das macht den Einzelnen nicht immer glücklich, aber es kann dem Menschen zum größten Lebensglück werden, in einer unvollkommenen Schöpfung, die ständig in Geburtswehen liegt, die stets dem Leiden, der Sterblichkeit ausgesetzt ist, aber der Erlösung, dem Österlichen, entgegenharrt.

Die Erschütterung durch einen nicht ungefährlichen Krankheitserreger führt der globalisierten Welt wieder einmal drastisch vor Augen, wie stets imperfekt sie ist und bleibt trotz allen – auch medizinischen – Fortschritts. Gott hat sie als eine werdende, evolutive Welt gedacht, ein Gott selber im Werden der Welt.

Wenn ein religiöses Verstehensmodell abstirbt, kann ein neues entstehen. Hans Küng hat in besonderer Weise darauf aufmerksam gemacht und hingewirkt. In seinem für eine persönliche Glaubensentwicklung wohl bedeutendsten Werk „Christ sein“ schreibt er mit Bezug auf Dorothee Sölle: „Leiden also braucht nicht und gerade für den Christen nicht ein passiv zu ertragendes Geschick zu sein, ein Fatum, ein Schicksal, in das er sich zu fügen hätte. ‚Leiden ist eine Art Veränderung, die der Mensch erfährt, sie ist ein Modus des Werdens.‘ Das Werden auf ein größeres, höheres, freieres Endziel hin.“ Das alles aber ohne Vertröstung, ohne Verharmlosung, ohne Ignorieren, ohne Revoltieren.

„Mit dem Blick auf Jesus bleibt der Mensch bei der mit allen Mitteln vollzogenen Bekämpfung des Leids realistisch. Er wird nie der Illusion verfallen, als ob es durch technologische Entwicklungen oder sozial-revolutionäre Veränderungen, durch Umweltveränderung, psychische Stabilisierung oder auch genetische Manipulation je einmal gelingen könnte, die Fraglichkeit der Wirklichkeit abzuschaffen, die Dialektik des Negativen aufzuheben, die Teufelskreise menschlicher Selbstzerstörung zu durchbrechen, die Macht des Nichtigen, des Chaos, des Sinnlosen in der Welt zu bändigen, ein Paradies auf Erden, ein goldenes Zeitalter, das Reich der Freiheit auch von allem Leid selber zu schaffen … Auch wer sich auf Jesu Weg einlässt und im Alltag sein eigenes Kreuz nüchtern auf sich nimmt, kann das Leid nicht schlechthin besiegen und beseitigen. Aber er kann es im Glauben durchstehen und bewältigen. Nie wird er dann vom Leid einfach erdrückt und im Leid verzweifelt untergehen. Wenn Jesus im äußersten Leid der Menschen- und Gottverlassenheit nicht untergeht, dann wird auch der, der in vertrauendem Glauben sich an ihn hält, nicht untergehen. Denn ihm ist im Glauben Hoffnung gegeben: dass das Leid nicht einfach das Definitive, das Letzte ist. Das Letzte ist auch für ihn ein Leben ohne Leid, das freilich weder er selbst noch die menschliche Gesellschaft je verwirklichen werden, sondern das er von der Vollendung, vom geheimnisvollen ganz Anderen, von einem Gott erwarten darf: alles Leid definitiv aufgehoben in ewigem Leben.“

Anzeige: Traum vom neuen Morgen. Ein Gespräch über Leben und Glauben. Von Tomáš Halík

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