„Retrokatholizismus“ mit Neomagie

Inmitten der akuten Virus-Epidemie werden plötzlich alte katholische Frömmigkeitsformen mit magischen Vorstellungen wiederbelebt. Das beobachtet die Erfurter Theologin Julia Knop mit Befremden: „Ob ein täglicher Blasiussegen, Einzelkommunionen außerhalb der privatim zelebrierten Messe, priesterliche Sakramentsprozessionen durch leere Straßen, die Weihe ganzer Bistümer an das Herz der Gottesmutter, Generalabsolutionen und Ablässe im Jahr 2020 angemessene und tragfähige kirchliche Reaktionen auf die Corona-Krise sind, kann zumindest gefragt werden.“ Derart „magische Restbestände und regressive Muster“, die einen fragwürdigen Trost versprechen, seien theologisch aufzuklären und zu überwinden. Denn „weder Weihwasser noch Hostie“ würden „viruzid“ wirken, also das Virus abtöten.

Irritierend ist insbesondere, wenn nun selbst die oberste Kirchenleitung meint, mit einer Art „Gebetssturm“, also massenhaft flehenden Anrufen, Gott bewegen zu können, die Seuche von uns zu nehmen. Julia Knop sieht in all diesen Versuchen einen neomagischen „Retrokatholizismus“ am Werk, der angesichts der Erkenntnisse und Fakten unseres wissenschaftlich geprägten Zeitalters unangemessen ist und aufgeklärten, gebildeten Menschen – auch Christen – Glaubenszugänge eher blockiert als eröffnet. Die Erfahrung von Naturkatastrophen oder menschengemachten Übeln habe die Theologie aus gutem Grund zurückhaltend werden lassen, was umfassende Welterklärungen angeht. An die Stelle ausgeklügelter Entwürfe, Gott angesichts des Leids zu rechtfertigen, sei der Verweis auf die Grenzen solcher Konstruktionen getreten. Wohl aber stehe die Theologie dafür ein, „dass die Klage angesichts hunderttausendfacher Infektionen und zigtausender Toter, die isoliert und trostlos starben, nicht verstummt“.

Zugleich lobte die Theologin, dass Menschen derzeit „kreativ und eigenständig neue Formen von Gebet und Solidarität (er-)finden, die sie untereinander und mit Gott verbinden“. Mit einer Kerze im Fenster, einem Gebet oder Gottesdienst zuhause entstünde eine andere, nicht institutionalisierte und überkonfessionelle Weise, Christ und Kirche oder einfach ein gottgläubiger Mensch zu sein. „Das besiegt nicht das Virus und rettet nicht vor dem möglichen Zusammenbruch des Systems. Aber es öffnet die Möglichkeit, Mensch vor Gott zu sein, wie auch immer dieses Drama ausgeht.“

Allerdings sind magische Formen religiöser Beschwörung gegen die Ausbreitung der Seuche momentan nicht nur erneut im Katholizismus zu beobachten, sondern ebenso in anderen Religionen, zum Beispiel im Islam, im Judentum, auch in Freikirchen, charismatischen Pfingstgemeinden sowie einheimischen Religionen beziehungsweise Stammesreligionen unter anderem Afrikas.

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