Die Corona-Seuche führt unserer Gesellschaft und jedem Menschen drastisch vor Augen, dass wir „die Zukunft nicht in der Hand“ haben. Es handelt sich um einen „Ernstfall der menschlichen Würde“. Das erklärt der evangelische Theologe, frühere Berliner Bischof und ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Wolfgang Huber, in einem epd-Interview. Die Menschen sollten sich verantwortlich verhalten, die Ausnahmesituation der strengen hygienischen Empfehlungen und der staatlichen Vorschriften auch über einen eventuell längeren Zeitraum hinweg akzeptieren. Denn damit helfe man zu vermeiden, dass allzu viele Patienten womöglich intensivmedizinisch beatmet werden müssen und die Kapazitäten der Krankenhäuser erschöpft werden. „Ärztinnen und Ärzte müssen, so gut es geht, vor der Entscheidung bewahrt werden, wem sie zu helfen versuchen und wem nicht. Und es muss Sorge dafür getragen werden, dass Alte und Schwerkranke besucht und seelsorgerlich begleitet werden.“
Kein Mensch dürfe selbst in dieser Notsituation „nur unter dem Gesichtspunkt angesehen“ werden, „was er der Gesellschaft nützen kann“. Die persönliche Integrität und die Unantastbarkeit der Würde jeder Person zu achten, sei „ein Gebot für jeden Einzelnen, nicht nur für den Staat“. Deshalb sollten wir uns so verhalten, „dass die Gefahr für unsere Mitmenschen wie für uns selbst so gering wie möglich gehalten wird“.
Dramatisch sei es, wenn in den Krankenhäusern bei der Behandlung der Patienten Entscheidungen über Leben und Tod eines Menschen getroffen werden müssen. Laut Huber gibt es tragische „Situationen, aus denen man nicht schuldlos herausfindet, aber trotzdem handeln muss. Mit größtem Respekt sollten wir an Ärztinnen, Ärzte und Pflegende denken, wenn sie solche Situationen auf sich nehmen müssen. Wenn sie nicht allen helfen können, müssen sie einen Weg suchen, um möglichst viele Menschenleben zu retten. Sie nehmen aus Verantwortung Schuld auf sich, weil es in einer solchen Situation keinen Weg der Schuldvermeidung gibt.“
Über die Erfahrung, dass die Christen in diesem Jahr nicht in öffentlichen Gottesdiensten das Leben, Leiden, Sterben und die Auferweckung Jesu Christi feiern können, sagt Huber: Das sei gewiss „ein schwerer Einschnitt“. Aber gerade dann, wenn der gemeinsame Gottesdienst und das gemeinsame Beten im Kirchenraum fehlen, könne deren besondere Bedeutung, deren Wert neu wahrgenommen werden. „Bei allem Schmerz darüber bin ich beeindruckt, ja begeistert darüber, wie kreativ viele Verantwortliche auf diese Situation reagieren“, zum Beispiel mit Predigten und Andachten im Internet, mit Übertragungen in Radio und Fernsehen. Da zeige sich etwas von der nach wie vor bestehenden Vitalität des christlichen Glaubens. Es sei der Ausdruck „für eine offene und öffentliche Kirche“.
Vor allem werde deutlich: „Es geht gar nicht um die Frage, was das für die Kirche als Institution bedeutet, sondern darum, was es für die Menschen bedeutet. Wir haben in der Kirche das uns Mögliche zu tun, damit Menschen zuversichtlich leben und getröstet sterben können.“ Alle Anstrengungen müssten dem Evangelium von der Güte Gottes für die Menschen dienen. Daher sei es „eine großartige Aufgabe für dieses Osterfest 2020, neue Formen zu finden, in denen wir Gemeinschaft bekräftigen und die Botschaft von der Auferstehung Jesu Christi weitergeben. Niemand hat das jemals so erlebt, und gebe Gott, dass wir es nicht noch einmal erleben müssen.“ Insofern wird es ein einzigartiges Osterfest werden.