Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Laut Markus- und Matthäusevangelium schreit Jesus am Kreuz laut auf und stirbt. In der kirchlichen Verkündigung aber scheint diese ganz und gar unfrohe Botschaft vergessen zu sein. Sie wird jedenfalls leicht verdrängt, gern übergangen. Allenfalls einmal im Jahr flackert sie kurz auf, in der katholischen Liturgie am Palmsonntag in den Lesejahren A und B. Exegetisch wird dieser irritierende Satz, den Jesus angeblich in seiner Todesstunde aus sich herausgestoßen habe, ebenfalls gern harmonisierend weginterpretiert. Es handele sich dabei ja um ein Zitat, den Beginn von Psalm 22. Und dieser Psalm der Gottverlassenheit münde gegen Ende doch in das Vertrauen, dass Gott retten möge. Alles also gar nicht so schlimm? Jesus zweifelt nicht, und er darf nicht zweifeln. Somit ist der Schrecken, den der Menschensohn und Gottessohn mit seinen letzten Atemzügen – gemäß der literarischen Überlieferung – verbreitet hat, entsorgt. Es geht hurtig Ostern und der Auferstehung entgegen!
Welch seltsame Angst der christlichen Glaubensgeschichte vor der womöglich bitteren Wahrheit! Dabei wussten die Menschen allezeit, gerade die um ihren Glauben ringenden, dass es niemals leicht ist, Gott zu vermuten, und noch schwerer, seine Hilfe in äußerster Drangsal zu erhoffen. Sämtlichen Mystikern, bis hin zur „Missionarin der Nächstenliebe“ Mutter Teresa, blieb es nicht erspart, in die dunkle Nacht des Glaubens zu fallen. Und dies ist eben nicht bloß eine gewisse Lebensphase der Glaubensentwicklung, aus der man irgendwann endgültig heraustritt, eine Stufe, die man ein für alle Mal überschreitet, sondern das ganze Leben wird immer wieder in diesen Abgrund hineingetaucht.
Besonders hart trifft es jene, die meinten, gut zum Glauben gekommen, in ihm fest verankert zu sein. Plötzlich fällt all das, was man schön fromm geordnet und umfangen vermutete, in sich zusammen – sogar bei jenen, die sich in Meditation geübt hatten, die in spiritueller Betrachtung und Versenkung schon weit vorangeschritten waren. Johannes vom Kreuz (1542–1591) schrieb in seinem Werk „Die dunkle Nacht“ dazu: „Jetzt aber lässt Gott sie so sehr im Dunkeln, dass sie nicht wissen, wohin sie mit ihren Vorstellungen und Gedankengängen gehen sollen. In der Meditation gehen sie keinen Schritt voran, wie sie es früher gewohnt waren, denn ihr innerer Sinn ist in diesen Nächten schon untergegangen. Gott lässt sie in solcher Trockenheit zurück, dass sie in geistlichen Übungen, in denen sie früher wonniglichen Geschmack zu finden pflegten, nicht nur keinen Saft und Geschmack mehr finden, sondern im Gegenteil in diesen Dingen Unbehagen und Bitterkeit empfinden. Da Gott spürt, dass sie bereits ein klein bisschen gewachsen sind, nimmt er sie von der süßen Brust weg, damit sie nun erstarken und aus den Windeln herauskommen, lässt sie von seinen Armen herab und gewöhnt sie daran, auf eigenen Füßen zu gehen.“
Das Ende des Wellnessglaubens
Wie der Jesuit Michael Höffner in der „Ordenskorrespondenz“ (1/2020) schreibt, unterscheidet Johannes vom Kreuz in der Nachterfahrung einen passiven und einen aktiven Gesichtspunkt: „In die Nacht hineingeführt zu werden, ist Passion, Widerfahrnis.“ Es gehe nicht darum , diese Nacht zu verscheuchen, sondern sie aktiv zu bejahen und sich so durch sie hindurchführen zu lassen. Und das immer wieder im Leben.
Denn: Gott ist nicht nur lieb und nett. Das ist Wirklichkeit. Der Jesuit Franz Meures weist in derselben Ausgabe der „Ordenskorrespondenz“ darauf hin, dass der Osterglaube in erster Linie „Teilhabe an der Gottesferne“ bedeutet. „Er ist nicht hier.“ Die Frauen finden am Ostermorgen ein leeres Grab vor und wissen diese Aussage eines jungen Mannes in weißem Gewand nicht recht zu deuten. Schlimmer noch: „Da erschraken sie sehr.“ Und wenige Verse später, mit denen wahrscheinlich das gesamte Markusevangelium ursprünglich endete, ohne die erbauliche Zusammenfassung der Erscheinungen des Auferstandenen am Schluss, heißt es: „Da verließen sie das Grab und flohen; denn Schrecken und Entsetzen hatte sie gepackt. Und sie sagten niemand etwas davon; denn sie fürchteten sich.“
Meures beklagt die religiöse Schönfärberei, eine „Wellness-Spiritualität“, die – nicht nur in der Religionspädagogik – in den letzten Jahrzehnten des allgemeinen gesellschaftlichen Wellnessbooms aufblühte. Daran wollten die kirchlichen Führungsfunktionäre teilhaben und heuerten für viel Geld Unternehmensberater an, die ihnen ins Ohr flüsterten, was für eine tolle „Marke“ – sprich: Botschaft – sie doch hätten, die sie nur geschickter werbemäßig unters Volk bringen sollten. Also: „Jesus liebt dich.“ „Jesus ist dein Freund und ist dir immer ganz nahe.“ „Ich darf mich von Gott ganz getragen wissen.“ Und so weiter. Dabei wird das den tatsächlichen Erfahrungen der Abwesenheit, der Ferne Gottes nicht gerecht. Meures: „Die fast ausschließliche Verkündigung des nahen, tröstenden und liebenden Gottes wirkt wie eine Ausgrenzung auf jene, die in tiefem Zweifel stecken oder lange Zeiten der Gottesferne durchleben.“ Der Theologe erwähnt eine Frau, die ihm sagte: „Ich habe mich in der Kirche hinter einer Säule versteckt, weil alles, was da vorne gesagt wurde, auf mich gar nicht mehr zutraf.“ Und auch viele Seelsorger zweifeln stark an dem, was sie verkündigen, ob überhaupt stimmig sein kann, was sie da behaupten. Meures zitiert einen hauptamtlich in der Seelsorge Tätigen: „Kann ich angesichts meiner inneren Leere und Dunkelheit meinen Beruf eigentlich noch ausüben?“ Ein junger Priester: „Ich stehe da hinter dem Altar, blicke in die Gemeinde und frage mich: Warum stehe ich hier? Was will ich hier? Ich habe denen schon lange gar nichts mehr zu sagen.“
Manchmal glaube ich (nicht)…
Hier aber liegen die eigentlichen Probleme sowohl der Menschen, die gern glauben würden, aber nicht glauben können, als auch des geistlichen Amts. Da hilft das Schlagwort von der „Neuevangelisierung“ oder die Phrase, man müsse „missionarisch Kirche sein“ nicht weiter, so Meures. Vielmehr müsse man in die Tiefe der existentiellen Not hinabsteigen und der Illusion entgegentreten, als seien es einzig „heroisch-heilige“ Menschen gewesen, die „die Fackel des Glaubens durch die Jahrhunderte“ getragen haben und tragen. Der Jesuit rät zu Wahrhaftigkeit, zu „größerer Nüchternheit und demütiger Ehrlichkeit“. Es gelte, „die ursprüngliche und genuine Auferstehungserfahrung in ihrer ganzen Fülle ernstzunehmen und zu verkünden. ‚Ja, wir glauben an den Auferstandenen, sind aber selbst oft Tastende, Irrende und Zweifelnde.‘ Das entspricht überhaupt nicht den heutigen Werbestrategien, ist aber Markenzeichen der österlichen Glaubenserfahrung.“
Manchmal glaube ich, manchmal glaube ich nicht. Das ist ehrlich, das ist echt. Das haben viele Schüler in einer früheren Umfrage unserer Wochenzeitschrift CHRIST IN DER GEGENWART so oder so ähnlich bekundet, ein aufrichtiges Schwanken zwischen der Sehnsucht nach Glauben und der Verzweiflung am Glauben. In dem Buch „Was sagt mir Gott? Was sag ich Gott?“ mit einer kleinen Auswahl der seinerzeit rund 4000 an die Redaktion eingesandten Stellungnahmen, Jugendgebete und Gedanken (bei Herder) heißt es: „Gott? / Zeig uns dein Gesicht! / Oder gibt’s dich nicht? / Was hältst du verborgen? / Bist du längst gestorben? / Zeig uns deine Macht! / Angst, dass die Welt lacht? / Gibt’s nur dich, den einen? / Und sonst wirklich keinen? / Bist du das Leben und der Tod? / Unser Schicksal?“ Oder: „‚Auch Götter sterben, wenn niemand mehr an sie glaubt‘, schrieb Jean-Paul Sartre. Gott ist tot…?! / Wir haben einen Freund, der gibt uns Wärme, einen Feind, der gibt uns Kälte, oft können wir Seine Wärme gebrauchen. / Sein Leben ist wie ein Fluss in die falsche Richtung, in Richtung des Ursprungs. Er sickert zugrunde. Wir vergessen ihn. / Wer war das? Wir haben es vergessen.“
Gott entgegenzweifeln
Vielleicht ist unsere Zeit eines bedrohlichen Virus, in der Leben, Leiden, Sterben und Auferweckung Jesu Christi nicht in öffentlichen Gottesdiensten bedacht und gefeiert werden können, sogar eine Chance, sich wieder auf den österlichen Glauben in seiner Tragik zu besinnen. Hinter verschlossenen Türen. So wie die Jüngerinnen und Jünger Jesu nach seinem Tod ausharrten und aushielten auf etwas hin, von dem sie nicht wussten, was es ist. Jenseits der vielen kirchlichen Worte, der manchmal phrasenhaften dogmatischen und moralischen Erklärungen sowie Anweisungen wäre eine solche Stille, ein solches Schweigen heilsam, um den inwendigen Christus zu suchen, um neu auf die Reise zu gehen nach dem Gott, der uns so fern und als Hoffnung so nah ist. Mehr Innerlichkeit wagen. Das könnte die frohe Botschaft zum Osterfest 2020 sein.
Wie einer der Jugendlichen an unsere Zeitschrift schrieb: „Gott ist für mich wie ein sanfter Schleier, wie ein unsichtbarer Schal, der leise die Erde umhüllt hat. Leicht und gutmütig schwebt er über jeder Seele. Jeder ist von ihm umgeben, und doch wird niemand erdrückt.“ Ähnlich der erwähnten Frau sind wir häufig eher Säulensteher. Verdeckt, ja versteckt hinter einer Säule lauschen wir und harren wir aus, ob vielleicht doch etwas, wenn auch gebrochen, an unser inneres Ohr dringt und unsere Seele zum Klingen bringt. Weiter reisend, weiter suchend unterwegs im Glaubenszweifel. Wie der Religionspädagoge Albert Biesinger gern sagt: „Gott entgegenzweifeln.“
Warum sollte dann nicht mit einem Osterlachen doch auch ein freches Osterbekenntnis Platz haben, wie das eines Schülers: „Gott ist cool und Gott ist nett, / drum geh ich / mit ’nem Gebet ins Bett. / Wenn ich Gott brauch, dann ist er da, / schneller als der Pfarrer war. / Gott ist mal da und auch mal dort, / aber er ist niemals fort. / Ich kann sterben und er nicht, / drum überlebt er mein Gedicht.“