Die brutale soziale und kulturelle Ungleichheit ist weiterhin das größte Entwicklungshemmnis für Lateinamerika, ein „Fluch“. Die Wurzeln reichen weit in die Geschichte zurück. Dieser Tatsache müssen sich die Staaten der Neuen Welt endlich stellen, erläutert der Auslands-Redakteur der „Neuen Zürcher Zeitung“, Werner J. Marti. Der Grundstein für die anhaltenden gesellschaftlichen Schieflagen zwischen Rio Grande und Feuerland wurde in einer dreihundertjährigen Kolonialzeit gelegt, durch eine an Herkunft und Hautfarbe orientierte hierarchische Ordnung. Daran trägt auch der Katholizismus, die Kirche, einen erheblichen Teil der Schuld.
„An der Spitze der Hierarchie standen die in Spanien geborenen Weißen. Nur sie durften hohe Regierungs- und Kirchenämter bekleiden und Großhandel betreiben. An zweiter Stelle standen die in Lateinamerika geborenen Nachkommen spanischer Einwanderer. Sie durften große Ländereien für Ackerbau und Viehzucht besitzen und Konzessionen zur Ausbeutung von Minen erhalten.“ Die Mestizen, die sowohl spanische als auch indigene Vorfahren haben, kamen darunter. Sie waren als Handwerker und kleinere Ladenbesitzer tätig, teilweise in mittleren Positionen der Armee. Noch weiter unten folgte die Urbevölkerung – und ganz am Ende der Rangordnung waren die afrikanischen Sklaven angesiedelt.
Marti stellt fest, dass selbst zweihundert Jahre nach dem Ende der Kolonialherrschaft die gesellschaftliche Grundstruktur kaum verändert ist. So werde der im Großgrundbesitz einst konzentrierte Reichtum gerade so weitervererbt. Dieselbe besitzende Bevölkerungsschicht hat wesentliche Teile der Industrie und des Dienstleistungssektors in Beschlag genommen. Entscheidend sei, dass Lateinamerika durch eine gleichberechtigte Chance auf Bildung die sozialen Grenzen durchlässig werden lässt. „Es muss möglich sein, dass man bei entsprechender Leistung auch tatsächlich aufsteigen kann.“ Genau das sei in der Regel bisher nicht der Fall. „Das Arbeitskräftepotential wird schlecht ausgeschöpft, weil ein bedeutender Teil der Jugendlichen keinen Zugang zu guter Schulbildung hat und damit seine Fähigkeiten nicht entwickeln kann.“ Viele junge Leute flüchten sich daher in die kriminellen Straßengangs oder in das sonstige organisierte Verbrechen, das zu einem Riesenproblem des gesamten Subkontinents geworden ist.
Wirtschaftliches Wachstum allein fördert nicht nachhaltig die Gesamtgesellschaft, beobachtet der Journalist. Das hätten insbesondere die ökonomischen Erfolge seit der Jahrtausendwende bis etwa 2013 gezeigt. Das liberale Wirtschaftsmodell war in dieser Zeit zwar recht erfolgreich, in dessen Folge sind jedoch Millionen von sozial Aufgestiegenen wieder in die Armut zurückgefallen oder aber ständig vom Abstieg bedroht.
Anlässlich des vierzigsten Jahrestags der Ermordung des salvadorianischen Erzbischofs Oscar Romero durch das einstige Militärregime hat das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat neulich an die bleibende Aufgabe von Politik, Wirtschaft und Kultur, insbesondere auch der Kirche, erinnert: Reine Verehrung eines Märtyrers werde der christlichen Botschaft, die er „mit seinem Leben bezeugt und bezahlt“ hat, nicht gerecht, so der Adveniat-Geschäftsführer Michael Heinz. „Es müssen Taten folgen. Die himmelschreiende Ungerechtigkeit und Ungleichheit zwischen Arm und Reich muss ein Ende haben.“ Daher fördert das Hilfswerk mit der Seelsorge insbesondere auch Bildungsinitiativen für junge Leute.