Mystik im AlltagHelden des Alltags

In Corona-Zeiten will jeder systemrelevant sein. Aber wie viele Menschen braucht es wirklich, um die Welt am Laufen zu halten? Nach jüdischer Legende sind es nur 36.

Nichts bleibt, wie es war.“ So tönt es allenthalben, manchmal zuversichtlich, manchmal ängstlich. Damit haben das Corona-Virus und die Pfingstbotschaft etwas gemeinsam: Sie mischen den Ist-Zustand explosiv auf und markieren einen Einschnitt, in der wörtlichen Bedeutung auch schmerzhafter Veränderung. Und ein Zweites: Sie wirken ansteckend und können jede(n) erwischen.

Bereits Lukas musste die Geistausschüttung dramatisch inszenieren, zu viel faule Anpassung an den Zeitgeist gab es schon. So erzählt er in seiner Apostelgeschichte, wie das Jesus-Virus Furore macht: keine Sklaven- und Klassengesellschaft mehr, stattdessen „ein Herz und eine Seele“, Güterteilung zwischen Arm und Reich. Und vor allem Orientierung an der einzigen Weltmacht, der namens Gott. Und die schenkt großzügig Leben, nichts ist ihr fremder als Gier und Neid – eine rasante Alternative schon im Römischen Reich. Für Lukas kommt es auf jene Geistanstöße an, durch die der Mensch „außer sich“ gerät und sich vom größeren Ganzen ergreifen lässt. Zuerst das Verständigungswunder zwischen den vielen Sprachen in der einen Sache (Apg 2). Dann die Entdeckung der gleichen Gotteswürde aller Menschen: „Mir hat Gott gezeigt, dass man keinen Menschen unrein nennen“, also ablehnen darf (10,15; 11,9). Petrus hat zu lernen, dass Gottes Geist immer schon da ist und Mauern zwischen Ego-Menschen und Nationalismen zum Einsturz bringt, damals zwischen Juden und „Heiden“. In allem geht es um die „Wiederherstellung“ (3,21) und Vollendung dessen, was seit Schöpfungsanfängen eigentlich klar ist: um die Zusammen-Stellung, den Zusammenhalt (altgriechisch: System) aller Dinge und Menschen.

So kommt ans Licht, was und wer wirklich systemrelevant ist – und wo Systeme sich ungut verschließen und Alternativen brauchen. In jüdischer Frömmigkeit gibt es die Überzeugung, Gott erhalte und vollende die Welt, weil es in jeder Zeit 36 Gerechte gibt (vgl. Gen 18,16–33). Niemand kennt diese „Alltagshelden“ mit Namen, aber ohne ihre Recht-Schaffenheit hätte Gott schon längst die Geduld mit uns Menschen verloren. Sie sind systemrelevant, sie haben lebenswichtige Bedeutung für den Zusammenhalt und Bestand des Ganzen. „Dank“ Corona rückt derzeit zum Beispiel das Pflegepersonal neu in den Blick und so viele sonst, die „einfach“ da sind, wenn sie gebraucht werden. Gewiss ist auch an die Eltern mit kleineren Kindern zu denken. Und warum nicht an Omas und Opas – oder so „nutzlose“ Figuren wie Künstlerinnen und Künstler?

Vor allem sollte jede(r) damit rechnen, selbst dazuzugehören. Die pfingstliche Geistausschüttung nach Lukas jedenfalls betrifft Alt und Jung – und überträgt sich per Ansteckung. Denn nur die Liebe zählt, das heißt die Würdigung des und der Anderen, und die Neugier auf wirklich gemeinsames, gerechtes Leben. Der Geist Jesu öffnet den menschlichen Kleingeist und sprengt Systeme, die zu eng geworden sind, auch kirchliche. Ist der jetzige Bedeutungsverlust der Kirchen ihre Chance zur „subsystemischen“ und gar subversiven Neu(er)findung, wie zum Beispiel Papst Franziskus oder Tomáš Halík meinen? Können sie ohne Systemrelevanz womöglich wichtiger werden für alle? Jedenfalls kommt es auf geistvoll Bewegte und Bewegende an. Ein Glaubenslehrer wie Johannes Tauler nannte sie „die Säulen der Kirche und der Welt“. Mit einem der 36 Gerechten ist überall zu rechnen, sogar im eigenen Umfeld. Gotthard Fuchs

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