Es war eine überraschende Nachricht im letzten Sommer: Die Sagrada Familia erhielt ihre Baugenehmigung. 137 Jahre hatte man darauf gewartet, und schließlich war es ausgerechnet die linksalternative Stadtregierung unter Bürgermeisterin Ada Colau, welche die Arbeiten an der Kathedrale offiziell erlaubte. Den Barcelonesen war gar nicht bewusst gewesen, dass der Bau im Grunde illegal war.
Der kuriose Umstand geht auf die Eingemeindungen von Gebieten und Städten zurück, die einst autonomem kommunalem Recht unterlagen. Als die Sagrada Familia Ende des vorletzten Jahrhunderts emporwuchs, war sie noch von Brachland umgeben, durch das Schafherden getrieben wurden. Offenbar kümmerte sich bei der Eingemeindung des Gebiets, das dem neuen Stadtbezirk Eixample zugeführt wurde, niemand darum, das Bodenrecht den neuen Verhältnissen anzupassen.
Die nun nachträglich ausgestellte Genehmigung hatte ihren Preis: Die Baugesellschaft musste 4,6 Millionen Euro an die Stadtverwaltung entrichten und sich dazu verpflichten, 41000 Quadratmeter Baufläche sowie die Höhe von 172 Metern nicht zu überschreiten. Ebenso setzte die Stadt fest, dass der rein kommerzielle Bereich der Kathedrale auf 372 Quadratmeter beschränkt sein soll. Janet Sanz, die zuständige Stadtplanerin, erklärte: „Mit der Zahlungsanweisung beenden wir eine historische Unregelmäßigkeit.“
Die an die Stadt entrichteten Millionen decken vereinbarungsgemäß den Zeitraum bis 2026 ab. Außerdem muss die Baugesellschaft weitere 36 Millionen zahlen, um – laut der Zeitung „El País“ – „die negativen Auswirkungen der Bauarbeiten auf die Nachbarschaft zu mildern.“ So sollen das öffentliche Verkehrsnetz ausgebaut und die Nebenstraßen saniert werden.
Die Zahlungen dürften kaum ein Problem darstellen. Das liegt daran, dass die Besucherströme zur Sagrada Familia von Jahr zu Jahr weiter anschwellen. Das wird auch „nach Corona“ wieder so sein. Besonders bei ostasiatischen Touristen gilt Gaudís „Sühnekirche“ ebenso wie der unweit entfernte Park Güell als unbedingtes Muss. Bereits in den frühen Morgenstunden gibt es lange Warteschlangen. Barcelona gilt zwar grundsätzlich als Architekturhauptstadt, und die in den letzten Jahren entstandenen Bauwerke haben zweifellos das Ansehen der Mittelmeer-Metropole vergrößert. Doch die ausländischen Besucher werden nach wie vor hauptsächlich von der Sagrada Familia angezogen. 4,5 Millionen Touristen haben die Kirche im letzten Jahr besucht. 2019 nahm man 103 Millionen Euro ein, was auf einen Zuwachs von 28 Prozent gegenüber dem Vorjahr hinausläuft. Dabei kostet das preiswerteste Ticket stattliche 20 Euro. Wer einen Audioguide möchte, zahlt 26 Euro. Möchte man geführt werden oder den Turm besteigen, kommt man schnell auf mehr als 50 Euro. Umgerechnet auf einen Besuchstag kommen so für die Stiftung der Baugesellschaft („Fundación Junta Constructora del Templo Expiatorio de la Sagrada Familia“) immerhin 282000 Euro zusammen, wovon 55 Prozent für die Bauarbeiten abgezweigt werden.
Und so wächst die Sagrada Familia von Tag zu Tag mehr in die Höhe. Die von Gaudí entworfenen vier Evangelistentürme, die derzeit etwa 110 Meter hoch sind, sollen einmal die Höhe von 135 Metern erreichen. Im fertigen Zustand wird der Matthäus-Turm mit einem Engel, der Markus-Turm mit einem Löwen, der Lukas-Turm mit einem Ochsen und der Johannes-Turm mit einem Adler geschmückt sein. Die neun Meter großen Figuren stammen von dem katalanischen Bildhauer Xavier Medina Campeny. Auch der alles überragende Jesus Christus-Turm befindet sich noch im Bau. Der sechste, der Maria-Turm, soll im nächsten Jahr fertig gestellt sein.
So weit die guten Nachrichten für die Baugesellschaft der Sagrada Familia. Die schlechten betrafen die berechtigten Anliegen in der Nachbarschaft. Die Baugesellschaft machte nämlich bekannt, dass sie von den Wasserwerken ein größeres Grundstück gekauft hat, um an der Glorien-Fassade eine 57 Meter lange Freitreppe mit Vorplatz errichten zu können. Das Problem ist nur, dass die Baumaßnahme den Abriss von Wohnhäusern und Geschäften vorsieht, in denen 1000 Menschen leben und arbeiten. Gegen diesen „Plan Especial de la Sagrada Familia“ hat sich in den letzten Monaten eine Nachbarschafts-Initiative formiert, der sich 350 Menschen angeschlossen haben. Die Initiative legte gerichtlich Einspruch gegen die Planierungsmaßnahme ein. Zusätzlich ist Streit darüber entbrannt, ob der Freitreppen-Entwurf überhaupt von Gaudí stammt oder von seinen Schülern. Diesen Streit wird letztlich das Oberste Gericht Kataloniens entscheiden müssen. In der Zwischenzeit möchte die Stadtverwaltung vermitteln und beispielsweise klären, wie die Zwangsenteignungen abgewendet werden können.
Damit ist die Zukunft des Baus endgültig zu einer öffentlichen Angelegenheit geworden. Aber das ist keineswegs eine Neuigkeit in der langen Geschichte des „Sühnetempels der Sagrada Familia“, der seit 1882 unzählige gesellschaftliche Krisen und Erschütterungen durchlebt hat.
Angefangen hat alles mit einem gewissen Josep Maria Bocabella. Der Leiter des Josefiner-Ordens beschloss 1877, in einem noch wenig bebauten und von weiträumigen Brachen geprägten Teil des Eixample das Gotteshaus errichten zu lassen. Bocabella reagierte mit religiösem Missionseifer auf die sozialen und hygienischen Missstände in Barcelona. Seine Diagnose war zutreffend: Noch acht Jahre später sollte Spanien von einer verheerenden Cholera-Epidemie erfasst werden, die besonders in Barcelonas Altstadt schnell um sich griff. Zudem brachen immer wieder soziale Unruhen aus, bei denen kirchliche Einrichtungen zur Zielscheibe anarchistischer Arbeiter wurden.
Die geplante Sühnekirche, ermöglicht durch Almosen und Spenden, sollte die Barcelonesen zur Umkehr bewegen. Der beauftragte Architekt Francisco de Paula del Vilar – dem der junge Technische Zeichner Antoni Gaudí beim Ausbau der Apsis des Montserrat-Klosters behilflich war – wollte unbedingt, gemäß zeitgenössischer Vorlieben, eine neogotische Kirche bauen und schied wenig später nach Unstimmigkeiten mit dem Bauherrn aus. Mehr Glück hatte Bocabella dann mit dem Nachfolger Antoni Gaudí, der den Auftrag 1883, ein Jahr nach Grundsteinlegung, annahm. Die Empfehlung für diese Lebensaufgabe kam von Bocabellas Assistenten Joan Martorell, der Gaudís Lehrmeister war und den einflussreichen, konservativ-katholischen „Cercle Artístic de Sant Lluc“ („Künstlerkreis des Heiligen Lukas“) mitbegründete. Martorell, dem das Amt zuvor selbst angetragen wurde, verzichtete zugunsten des gerade erst 31-jährigen Architekten, der ebenfalls dem religiösen Zirkel angehörte.
Der Bauherr und Ordensleiter war von Gaudís Vorstellung begeistert, den Entwurf für die Sühnekirche, mit Ausnahme der bereits bestehenden Krypta, von Grund auf zu überarbeiten und eine Sakralarchitektur entstehen zu lassen, die, historisch in der Gotik verankert, die zerrissene Gegenwart heilen sollte. Den missionarischen Geist teilte Gaudí mit dem vier Jahre jüngeren Enric Sagnier, der ab 1902 den „Sühnetempel des Heiligen Herzens“, weit entrückt vom lasterhaften Altstadt-Gewühl, auf dem Tibidabo-Berg errichtete. Beide Architekten, die um die Jahrhundertwende zu den einflussreichsten in Barcelona gehörten, hatten nicht nur enge Bande mit Großbürgertum und Kirche geknüpft. Gaudí schloss sich außerdem der katholisch-katalanistischen „Lliga Espiritual de la Mare de Déu de Montserrat” an, gegründet im Gedenken an die Muttergottes von Montserrat. Die Künstler ordneten ihre Kunst der katholischen Mission unter, sie pflegten eine eng mit der traditionellen Ikonographie verbundene Kunst, die beständig auf biblische Sujets zurückgriff.
Gaudís Sühnekirche („temple expiatori“) passt bestens in dieses Denkschema, da die Bewohner des irdischen Jammertals, konkret die Bürger Barcelonas, Buße für die Sünden der Großstadt tun sollten. Gaudí entfloh der säkularisierten Klassengesellschaft, deren industrieller Modernitätsfuror ihn ebenso befremdete wie die sozialen Spannungen. Demgegenüber fand er im architektonischen Projektionsbild der Gotik einen reichen, sinnbeladenen Überschuss – religiös, sozial und moralisch. Die Kathedrale, die seinerzeit etliche katalanische Künstler wie Joaquim Mir („Die Kathedrale der Armen“, 1898) anzog, war für Gaudí weit mehr als ein „Sühnetempel“. Als sozial-religiöse Projektionsfläche sollte sie, ausgehend vom Reinheitsideal der „Heiligen Familie“, ein Aufruf zur moralischen Erneuerung der Gesellschaft sein. Der Maler Joaquim Mir, der eine Bettlerfamilie mit den stilisierten Hauptfiguren Muttergottes und Kind in die Brache vor die unvollendete Sagrada Familia versetzte, nahm die reale Armut durch einen religiösen Filter wahr – verbunden mit der Aufforderung zur moralisch-religiösen Läuterung.
Der Künstler Joaquim Mir sowie die Architekten Antoni Gaudí und Enric Sagnier sahen die zahlreichen blutigen Unruhen aus religiös-sublimierter Perspektive. Aber letztlich konnten auch sie nicht ignorieren, dass sich die Spannungen immer wieder in der chaotischen Unterstadt der Wanderarbeiter entluden, nicht in der heilen Oberstadt, in der Gaudí seine phantastischen Gebäude für Klerus und reiche Mäzene errichtete. Als Architekt hat er sich niemals mit den Abgründen von Barcelonas Altstadt beschäftigt.
Die gewaltsamen sozialen Unruhen bestärkten Gaudí darin, an seinem Konzept der „Sühnekirche“ festzuhalten. Vieles an seinem Architekturverständnis war dezidiert antimodern. So war etwa der Rückgriff auf die Gotik eine der Triebfedern des katalanischen Modernismus. Gaudí dachte, die gen Himmel strebenden mittelalterlichen Kathedrale-Türme stellten die angemessene Form der Vergeistigung dar. Allerdings war Gaudí keineswegs bloß ein Kopist, vielmehr revolutionierte er die gotische Konstruktionstechnik und benutzte moderne Materialien. Der Architekt wollte die Gotik aus ihrer vermeintlichen „Künstlichkeit“ befreien, er ging davon aus, ihre Bauprinzipien würden sich nicht nach den Gesetzen der Natur richten. Deswegen wollte er den „kranken Körper“ heilen, eine neue Gotik ohne künstliche „Krücken“ schaffen. Aus der neuen Technik entwickelte er eine auf der gekrümmten Linie basierende Konstruktions-Ästhetik, die er während des Baus der Sagrada Familia erstmals in der Krypta von Santa Coloma de Cervelló anwandte. Nachdem er im Pinienwald der Krypta die natürlichen Wachstumsgesetze studiert hatte, wollte er sie in der Sagrada Familia in architektonische Prinzipien verwandeln.
Gaudís eigentliche Erfindung zielt auf die konstruktive Logik. Die zur Lastabtragung entwickelten Tragwerke erschöpfen sich dabei nie in ihrer bloßen Funktion, sondern bilden zugleich die plastische Gestalt der Bauform aus. Die parabolischen, sich verzweigenden Säulen treffen auf das Gewölbe der Basilika und formen im Emporwachsen einen beeindruckenden Säulenwald. Das ist gleichsam das Rationale und Expressive bei Gaudí, es sind die zwei Seiten, die bei ihm niemals zu trennen sind.
Weit über Gaudís Lebenszeit hinaus blieb der Bau der Sagrada Familia von Kritiken und Krisen bestimmt. Da die Bautätigkeit allein von privaten Spenden abhing, musste er während des Ersten Weltkriegs, als der Weiterbau unterbrochen wurde, selbst Almosen eintreiben. Nachdem Gaudí 1910 die Casa Milá vollendet hatte, widmete er sich in den verbleibenden Lebensjahren ausschließlich der Sagrada Familia: Tatsächlich war die Aufgabe in einem Menschenleben nicht zu schaffen: Die Geburts-Fassade wurde erst 1930 – vier Jahre nach seinem Unfalltod – vollendet.
Mit den Arbeiten an der Passions-Fassade konnte erst 1954 begonnen werden, da es nur wenige Entwürfe oder mündliche Überlieferungen von Gaudí gab. Hier finden sich auch die modern-abstrakten Skulpturen des katalanischen Bildhauers Josep Maria Subirachs, die anfangs eine heftige Kontroverse auslösten. Die Arbeiten an der prachtvollen Glorien-Fassade, die die Verklärung Christi nach dem Kreuzestod darstellen soll, begannen sogar erst 2002. Die Vollendung der Hauptfassade und des großen Portals liegt allerdings im Ungewissen. Antoni Gaudí plante angeblich einst einen großen Vorplatz und eine zur Avinguda Diagonal, eine der Prachtstraßen der Stadt, führende Allee. Wie es auch immer um die Urheberschaft des Entwurfs steht, noch heute ist der freie Blick auf die Glorien-Fassade durch einen ganzen Wohnblock versperrt.
Eine neue Phase begann am 7. November 2010, als die Bauarbeiten im Innenraum gerade abgeschlossen waren. An diesem Tag weihte Papst Benedikt XVI. die Kirche und erhob sie in den Rang einer päpstlichen Basilica minor. Seither schien die Finanzierung für den Weiterbau gesichert zu sein. Bereits Josep Maria Bocabella sah vor, den Bau der Kirche allein durch Spenden und Eintrittsgelder zu finanzieren. Dieser Grundsatz gilt bis heute. Unverändert kommen die meisten Gelder noch immer aus katholischen Kreisen und aus Japan. Über die weiter üppig fließenden Geldströme braucht sich die Baugesellschaft keine Sorgen zu machen. Zumindest gibt es keinen ernsthaften Zweifel, dass irgendetwas die Bauarbeiten unterbrechen könnte. Obwohl – und das ist das größte Manko – im Bürgerkriegsjahr 1936 Plünderungen und Brandschatzungen dazu führten, dass nahezu alle von Gaudí angefertigten Zeichnungen, Pläne und Modelle vernichtet worden sind.
Ende 2015 wurde über den Kirchenschiffen, auf siebzig Meter Höhe, der betonierte Kreuzessaal vollendet, über den die sechs Haupttürme, flankiert von den zwölf Aposteltürmen, gen Himmel wachsen werden. Kürzlich verlautete die frohe Botschaft: Etwa 80 Prozent der Sagrada Familia sind vollendet, pünktlich zum hundersten Todesjahr Gaudís werde man den Sakralbau fertig gestellt haben.
Bei aller wachsenden Euphorie, die 2026 voraussichtlich in einen katalanischen Jubel- und Staatsakt münden wird, sollte nicht übersehen werden, dass der Bau immer auch von massiven Protesten begleitet war. So publizierte bereits am 9. Januar 1965 die Zeitung „La Vanguardia“ einen öffentlichen Protestbrief, der sich für den sofortigen Baustopp einsetzte. Unterschrieben wurde er von – neben zahlreichen Priestern – einem großen Teil der internationalen Avantgarde, von spanischen Architekten wie Josep Antoni Coderch, Ricardo Bofill und Oriol Bohigas, ja sogar von César Ortiz-Echagüe, einem ultraorthodoxen Katholiken und Opus Dei-Mitglied, von der internationalen Prominenz um Nikolaus Pevsner, Vittorio Gregotti und Bruno Zevi, von Le Corbusier und Gio Ponti, von Künstlern wie Joan Mirò und Antoni Tàpies sowie von den Schriftstellern Camilo José Cela und Salvador Espriu. Der Tenor des offenen Briefes hat an Gültigkeit bis heute nichts verloren: „Es kann nicht mehr darum gehen, für die gesamte Stadt und für zwei Millionen Menschen einen riesigen Tempel zu bauen. Vorrangig wäre dagegen, viele kleine Pfarreien zu errichten. Überall im Städtebau bemerken wir in den Stadtvierteln eine Dezentralisierung, wobei die Kirche versucht, die Pfarreien zu stärken und auf diese Weise die Evangelisierung zu unterstützen. Selbst bei größeren religiösen Zusammenkünften macht der Tempel der Sagrada Familia wenig Sinn. Besser wäre ein offener oder überdachter Platz, der sich von dem von Gaudí entworfenen Tempel deutlich unterscheidet. Aus diesem Grund sind wir davon überzeugt, dass ein Weiterbau des Tempels ein gesellschaftlicher und städtebaulicher Irrweg ist.
Des Weiteren gehen wir davon aus, dass die heutige Generation keineswegs den Sinn der Entsühnung und eines entsprechenden Gebäudes mitträgt, das Millionen verschlingen wird.
Abschließend fragen wir uns, ob ein Gebäude nach dem Tod des Architekten, der es entwarf, überhaupt vollendet werden kann. Das wäre vielleicht möglich, wenn es detaillierte Pläne gäbe. Aber Gaudí hatte eine sehr lebendige Vorstellung von Architektur, jeden Tag folgte er irgendwelchen ungeordneten Eingebungen, während seine ständig vor Ort überarbeiteten Pläne keineswegs modellhaften Charakter beanspruchen. Im Grunde konnte nur Gaudí alleine die Sagrada Familia fertig stellen. Ohne ihn bleibt das Werk verfälscht. Es kommt hinzu, dass wir auf keinen einzigen authentischen Entwurf von Gaudí zurückgreifen können. Das ist der entscheidende Grund, der alle anderen Argumente zum Scheitern verurteilt. Weil die Entwürfe fehlen, lässt sich Gaudís Sagrada Familia nicht weiterbauen. Niemand, der aufrichtig Gaudís Werk respektiert, wird sich an diesem Stil-Mischmasch beteiligen. Nachdem man das jetzige Vorgehen eingestellt haben wird, könnte man in der Zukunft die Möglichkeit prüfen, auf dem gegenwärtigen Vorplatz einen Tempel unter freiem Himmel zu errichten, vielleicht auch den Bau weiterzuführen, unter strikter Berücksichtigung von Gaudís Vorstellungen sowie moderner Techniken.“
Gerade die Nichtbeachtung der letzten Forderung des offenen Briefes hat unter spanischen Architekten heftigste Kritik provoziert. Denn die Baugesellschaft der Sagrada Familia hat beschlossen, den Anschein einer authentischen Architektur von Gaudí zu bewahren, in Wirklichkeit aber umgibt sie Stahlbeton mit einer teuren Naturstein-Verschalung. Das führt zu einem Mischmasch, den man heute auf der Baustelle beobachten kann. Während früher Gaudís Originaltürme noch von der großen Handwerkstradition seiner Zeit geprägt waren, wird mittlerweile jedes bauliche Detail von Computern berechnet. Der Architekt Enric Massip meint, Gaudís großartige Krypta bei Barcelona zeige bestens, dass er das System aus Druckkräften und Lasten perfektionieren wollte. Im Grunde war er davon angetrieben, „die letzte Kathedrale aus Stein zu errichten“. Beton setzte er lediglich ein, um die Türme zu bekrönen, aber nicht, um sie zu stabilisieren.
Die Architektin Beth Gali verfolgte jahrzehntelang den Schlagabtausch zwischen Befürwortern und Gegnern. Sie hat die touristische Stadtikone Meter um Meter emporwachsen sehen, ohne dass die unzähligen Kritiken etwas bewirkt hätten: „Wenn die heutigen Erbauer des Sühnetempels Gaudí besser verstanden hätten, dann hätte er an Ausdruckskraft gewonnen. Doch die roboterhaften Räume, die unter zeitlichem Druck jetzt entstehen, haben nichts mit einer Gaudí-Kultur gemeinsam. Gaudí lässt sich nicht reproduzieren. Bei Mies van der Rohe ist das möglich, bei Gaudí nicht. Es entsteht nun eine große betörende Kitschwelt, um die touristischen Massen anzuziehen. Wir haben einen Mythos geschaffen.“