Ohne Freundschaft möchte niemand leben, hätte er auch sonst alle Güter.“ So formulierte schon Aristoteles vor über 2000 Jahren. Und in jüngster Zeit bekannte der Schriftsteller Milan Kundera, dass selbst ihm als „Ungläubigen“ immerhin doch „ein einziges Wort heilig“ sei: Freundschaft. Unter diesem Stichwort kommt offenkundig etwas in den Blick, das entscheidend dafür ist, dass Leben gelingen kann.
Allerdings, das Phänomen ist vielfältig. Jemand kann viele Freundinnen und Freunde bei Facebook haben – und doch keinen einzigen „wirklichen“ Freund. Man kann seine Kumpel im Verein oder Club mit „Freund“ anreden, aber zwischen dem Geschäfts- oder Sportsfreund und dem Freund, der Freundin als „Lebensmensch“ liegen Welten… Die Sache gleicht wirklich einem Rohdiamanten, und Joachim Negel, dem überaus belesenen Fundamentaltheologen aus Fribourg, gelingt es, diesem ganz unterschiedliche Facetten abzugewinnen. Er hat vierzehn Essays geschrieben, die zwar auch einzeln faszinieren, aber zugleich ein kunstvolles Ganzes ergeben. Nach der Lektüre dieses glänzenden Buches sieht man die Artenvielfalt des Freundschaftlichen viel genauer und differenzierter. In gewisser Hinsicht nämlich zeigt sich Freundschaft als grundlegender und umfassender noch als Liebe. In ihrem Dreiklang von sexueller Lust (sexus), leidenschaftlichem Begehren (eros) und selbstloser Zuwendung (agape) ist sie deshalb in diesem Buch ständig präsent.
Es ist ein theologisches Buch, und zu den besten unter den vielen sehr guten Kapiteln gehören die über die Jesusminne und Gottesfreundschaft. Aber das heißt gerade nicht, dass hier abgehoben spekuliert würde. Jeder Buchseite ist vielmehr reiche Erfahrung und lebendige Zeitgenossenschaft anzumerken. Wenn schon theologisch und argumentativ, dann eben auf erfrischende Weise auch „spirituell“ und meditativ. Negels Texte haben jenen sympathischen Drang „zu den Sachen selbst“, der die Phänomene des Alltags und der Lebenswelt aufsucht und erschließt. Das fängt mit den farbig abgebildeten Kunstwerken und ihrer Interpretation an. Das setzt sich in der Betrachtung real gelebter Freundschaften fort, zum Beispiel im Leben von Hannah Arendt, und in einer Fülle literarischer Zeugnisse und Zitate. Selbstverständlich kommen Kultur- und Humanwissenschaften zur Sprache. Weder fachspezifisch aufgeladen noch erbaulich herabgesetzt, kommen hier Glaube und Leben einladend und bisweilen mitreißend zur Sprache, theologisch grundsolide, sogar originell, und prall von Leben, wie es sich gehört.
Weil es ein theologisches Buch ist, muss es auch ein philosophisches sein. Hier wird genau hingeschaut und gedacht. Philo-Sophie heißt ja vom Ursprung her Lebenskunst, Liebe zur Weisheit und Weisheit der Liebe. Sie ist, wenn man so will, in sich ein erotisches Geschehen wie das Leben. Grandios ist deshalb auch die ausführliche Rückbindung aller Reflexionen an die großen alteuropäischen Philosophien der Freundschaft bei Platon, Aristoteles und der Stoa, ohne die es auch die bisherige Geschichte und Gestalt des Christlichen so nicht gäbe. Welche Schätze da gehoben werden, wie sehr dadurch die Besonderheit des biblischen Gottesglaubens und seiner Jesusgeschichte erst Profil gewinnt! Wie selbstverständlich sind zentrale Texte nicht nur christlicher Tradition, sondern auch modernen Denkens präsent! Präzise erläutert der Autor psychologische Erkenntnisse und lässt sozial- und kulturwissenschaftliche Einsichten zum Wandel von Freundschaft bis in die jüngste Gegenwart zu Wort kommen.
Eros der Gottesbegegnung
Der Band ist, drittens, ein im ursprünglichen Sinn des Wortes wirklich katholisches Buch: weltfreudig und dem Menschlichen zugewandt. Es fängt nicht erst bei Israel und Jesus an, schon gar nicht bei innerkirchlichen Fragen, sondern bei Adam und Eva, bei Kain und Abel, also bei dem, was alle Menschen betrifft. So wie ein Meister Eckhart noch ganz selbstverständlich vom „Pfaffen“ – also Theologen – Platon sprechen konnte, wird hier sehr viel Weltwissen tendenziell einbezogen. Gerade christlich geht es ja um den, um jeden, um „je den“ Menschen, und um das Gelingen des Projekts Menschwerden für alle in allem. Zwar spielen ost- und anderskirchliche Traditionen kaum eine Rolle, und auch der interreligiöse Dialog würde das Nachdenken über Freundschaft noch mehr bereichern. Aber von Ansatz und Durchführung her ist die Offenheit und Weite der vorliegenden Essays erfrischend und beispielhaft. Es geht eben gerade christlich nicht um religiöse Binnenfragen, sondern um die tiefe Erschließung grundlegender Lebensfragen, auf die jeder Mensch ansprechbar ist.
Dass es, viertens, ein biblisch unterfüttertes und gesättigtes Buch ist, braucht eigentlich kaum mehr unterstrichen zu werden. Zwar werden die Ergebnisse historisch-kritischer Exegese noch zu wenig eingearbeitet. Aber die theologischen Lektüren biblischer Texte und ihrer Auslegung sind zentral: etwa das Hohe Lied der Liebe und die Freundschaftsgeschichten im Ersten Testament, natürlich auch Jesus und die Feindesliebe, Paulus mit seinen Hymnen auf die göttliche Liebe im Alltag der Welt und das forcierte Freundschaftsverständnis in den bedrängten johanneischen Gemeinden. Es ist ja kein Zufall, dass Freundschaft im Neuen Testament in Abgrenzung zur umgebenden Kultur gerade nicht als Eros buchstabiert wird, das wagt als Erster dann der große Origenes. Die Zentralstellung von Agape und Caritas, also selbstlos hingebender Liebe, konnte aber bekanntlich den Eindruck erwecken, nichts sei unerotischer als der Gottesglaube. Dabei ist das Gegenteil der Fall, wie Negel ans Licht bringt. „Eros als Quell der Gottesbegegnung“ ist ein meisterliches Zentralstück des ganzen Werkes. „Die Lust an Gott und seiner Sache“ lässt das Geschenk von Freundschaft und Liebe tiefer sehen, durchaus mit seinen Tragödien und Dämonien.
Auch beim reichhaltigen Durchgang durch die nachbiblische Glaubensgeschichte ist, fünftens, stets der aktuelle Bezug zu heute brennenden Lebensfragen erkenntnisleitend. Die Geschichte des Mönchtums zum Beispiel ist ein Laboratorium christlicher Lebenskunst – und auch Single-Existenz. Gilt es da doch, die Spannung zwischen Einsamkeit und Gemeinsamkeit schöpferisch zu gestalten – dem Alleinstehenden aus Nazaret auf der Spur und gerade deshalb dem Anderen als Anderem zugewandt. In der „Achsenzeit der christlichen Spiritualität“, dem 12. Jahrhundert, sind es besonders die Zisterzienser, die das neu verwirklichen: „Gott ist Freundschaft“, und die gilt es zu leben. In dieser Zeit des Minnesangs wird die romantische Liebe erfunden. Auch die rechtliche Anerkennung der Gleichberechtigung von Frau und Mann damals gehört zu den Meilensteinen in der Emanzipation der Geschlechter.
Und erwachsene Keuschheit
Dabei liegt Negel jede Art Schönfärbung von Kirchen- und Glaubensgeschichte fern. Moralistische Engführungen, leib- und geschlechterfeindliche Tendenzen, dualisierende Abspaltungen – nicht zuletzt im Schatten des großen Augustinus und seiner Ambivalenz – kommen deutlich zu Wort. Höchst verdienstvoll ist deshalb auch das Kapitel über homosexuelle Liebe und Freundschaft, ein einziges Plädoyer für einen „religiös gepflegten Homoerotismus“. Nicht minder begründet und inspirativ ist der schöne Essay über den Verzicht in der Liebe, über die Disziplin in der Freundschaft, also über „Keuschheit als erwachsene Selbstpräsenz“ – und das keineswegs nur für Ordensleute, sondern für jeden erwach(s)enden (Christen-)Menschen.
So vieles wäre im Detail noch zu rühmen. Entscheidend ist der Zusammenklang von Gehalt und Gestalt: Wie das Thema und seine Durchführung ist deren Sprache durchaus erotisch, erfahrungsnah und lockend. Kurzum: Eine Theologie zum Verlieben und zum Leben in Fülle, Einladung zu einem Gottesglauben, der die Welt und das Leben so schön sehen lässt, wie sie schon sind – und doch erst werden, hoffentlich. Seit den Werken von Hans Urs von Balthasar, dem wohl gebildetsten Theologen des letzten Jahrhunderts, ist mir kaum ein theologisches Buch untergekommen, das derart facettenreich Literatur, Kunst und Kultur miteinbezieht und dialogfähig doch ganz bei der eigenen Sache ist.