Kaum liegt die abermals verheerende Kirchenstatistik vor (s. S. 290), setzen die üblichen Reflexe ein. Alle geben vor zu wissen, woher der Abwärtstrend kommt und wie er zu stoppen ist. Die Kirchen müssen wieder stärker Profil und Identität gewinnen, sagen die einen. Viel zu lange habe man sich „verweltlicht“. Ganz im Gegenteil, erklären die anderen: Die ausbleibenden Reformen sind schuld. Wenn sich gerade die katholische Kirche weiterhin so weltfremd verhält und jene ausschließt, die nicht in jeder Hinsicht ihren Idealen entsprechen, werden ihr noch mehr Leute den Rücken kehren.
Aber es ist zynisch, mit den schlimmen Zahlen die eigene Agenda vorantreiben zu wollen. Keinen Deut besser führen sich die üppig ausgestatteten bischöflichen Pressestellen und PR-Agenturen auf, wenn sie das Desaster wieder schönreden. Es gehen immer noch mehr Menschen in den Gottesdienst als (in Corona-freien Zeiten) ins Fußballstadion, wird etwa gern behauptet. Oder man zitiert Albert Schweitzer mit seinem Wort, dass man ja kein Kirchenmitglied sein müsse, um christlich zu glauben. „Man wird ja auch kein Auto, wenn man in die Garage geht.“ Alles halb so schlimm also?
Mitnichten! Es ist schlimm. Und deshalb wäre es mehr als angemessen, sich jetzt nicht mit schnellen Antworten zufriedenzugeben. Dazu gehört im Übrigen – bei aller Sympathie und sachlichen Begründung – auch der Ruf nach Reformen. Denn dass das katholische Lehramt nach wie vor seine Verweigerungshaltung beibehält, erklärt nur einen Teil des Abbruchs. Vieles, was katholischerseits zurecht gefordert wird, ist in den evangelischen Kirchen ja verwirklicht: das geistliche Amt für Frauen, Synodalität, Laienverantwortung… Und trotzdem treten hier die Leute in derselben Größenordnung aus.
Nein, die Verantwortlichen müssten zuerst ihre Ratlosigkeit einräumen. Denn das Problem reicht offensichtlich tiefer. Warum nur interessiert die christliche Botschaft von Glaube, Liebe, Hoffnung, vom Leben in Fülle, auch über den Tod hinaus, immer weniger? Wieso empfinden so wenige unsere Gemeinden, den Gottesdienst, anziehend? Ist gegen den Mega-Trend Säkularisierung womöglich wirklich kein Kraut gewachsen? Reichen den meisten die „weltlichen“ Sinngeber wie Familie, Gesundheit, Prestige und Konsum? Also doch ein echter Glaubensverlust, ein Gottesverlust? Es ist ja längst so, dass die Menschen nicht mehr wutschnaubend austreten, weil sie sich an diesem oder jenem Punkt der Lehre stören. Das würde Reibung, würde Interesse bedeuten. Doch heute regt sich kaum einer noch über die Kirchen auf. Sie sind der Mehrheit inzwischen egal. Sich das einzugestehen, ist schmerzhaft und traurig. Aber Realitätsverweigerung hat noch nie weitergeholfen.