Drei Kinder streiten darum, wem eine Flöte zusteht: Das erste kann sie aufgrund seiner Fähigkeiten am besten nutzen, das zweite verfügt über kein anderes Spielzeug und das dritte hat die Flöte selber hergestellt. Wenn der indische Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Amartya Sen, Nobelpreisträger für Ökonomie von 1998, diese Geschichte erzählt, will er zum Nachdenken über Gerechtigkeit anregen. Für jede Lösung in diesem Streit gibt es gewichtige Argumente. Ein abstraktes Ideal von Gerechtigkeit hilft nicht weiter. Für Sen ist es daher viel wichtiger, durch öffentlichen Vernunftgebrauch in einem demokratischen Prozess eine Einigung zu erzielen.
Das ist Sens großes Thema: Wie lässt sich soziale Gerechtigkeit für den Einzelnen in seinem jeweiligen gesellschaftlichen Zusammenhang verwirklichen? Der in Amerika lebende Wissenschaftler verbindet dabei Fragen der Ökonomie mit denen der Moralphilosophie. Jetzt wurde dem 86-Jährigen für sein einflussreiches Werk der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zugesprochen. „Wir ehren mit Amartya Sen einen Philosophen, der sich als Vordenker seit Jahrzehnten mit Fragen der globalen Gerechtigkeit auseinandersetzt und dessen Arbeiten zur Bekämpfung sozialer Ungleichheit in Bezug auf Bildung und Gesundheit heute so relevant sind wie nie zuvor“, hieß es zur Begründung. Die Auszeichnung wird seit 1950 vergeben und ist mit 25000 Euro dotiert. Im letzten Jahr war der brasilianische Fotograf Sebastião Salgado ausgezeichnet worden. Die Verleihung findet traditionell zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse in der Paulskirche statt. In diesem Jahr ist freilich noch ungewiss, in welcher Form die Buchmesse überhaupt stattfindet. Die Verleihung des Friedenspreises wird davon unabhängig geplant.
Amartya Sen ist überzeugt, dass gesellschaftlicher Wohlstand nicht allein am Wirtschaftswachstum zu messen sei, sondern immer auch an den Entwicklungsmöglichkeiten für die Schwächsten. Der Index der menschlichen Entwicklung, den die Vereinten Nationen seit 1990 herausgeben, geht maßgeblich auf ihn zurück. Ein Index, mit dem sich Ungleichheit messen lässt, trägt seinen Namen. Die traditionellen Maßstäbe der Wirtschaftswissenschaftler, etwa das Bruttoinlandsprodukt oder Zahlen zu Einkommen und Besitz, hält Sen für wenig aussagekräftig, da sich gesellschaftliche Verwerfungen und soziale Ungerechtigkeit daraus nicht erkennen lassen. Der Ökonom und Philosoph will weitere Faktoren berücksichtigen: die städtebauliche Infrastruktur etwa, das Bildungsangebot, das Sozialgefüge oder die Gleichberechtigung der Frauen und die Situation der Familien. Diese Faktoren eröffnen oder verstellen dem Einzelnen persönliche Handlungsspielräume. Das gilt auch für zukünftige Generationen: Um ihnen mindestens die gleichen Entscheidungsspielräume wie der jetzigen Generation zu erhalten, müssen heutige Gesellschaften Verantwortung für die Umwelt und für nachhaltige Entwicklung übernehmen.
Persönliche Erfahrungen haben das Denken des Wirtschaftswissenschaftlers geprägt. Geboren am 3. November 1933 in Shantiniketan in Westbengalen, erlebte er die Unabhängigkeitsbewegungen in Indien während der vierziger Jahre und die Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Moslems sowie die große Hungersnot in Bengalen 1943 mit. „Meine kindliche Seele war überwältigt von der schockierenden Erkenntnis, dass wirtschaftliche Armut und totale Unfreiheit – das Opfer hatte nicht einmal die Freiheit zu leben – aufs engste zusammenhängen“, schrieb er in seinem Buch „Die Identitätsfalle“ über seine Kindheit.
Die Hungersnot in Bengalen hat Sen gelehrt, dass solche Katastrophen nicht nur auf Versorgungsmängel zurückzuführen sind, sondern auch durch gesellschaftliche und politische Bedingungen hervorgerufen werden. „Hunger ist von Menschen gemacht“, erklärt er. Freiheitliche Strukturen, darunter Informations-, Meinungs- und Redefreiheit, können Armut und Not verringern. Sen zeigt sich überzeugt, dass Hungersnöte in Demokratien seltener vorkommen als in Diktaturen. Demokratische Gesellschaften sind für Sen deshalb eine Grundbedingung für Gerechtigkeit. Dabei betont der Wirtschaftswissenschaftler, dass es nicht nur im Westen partizipatorische Regierungsformen gegeben hat, sondern dass sie fast überall auf der Welt eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausüben.
Aus Sicht von Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins und Vorsitzende des Stiftungsrats, steht fest: „Sens inspirierendes Werk ist Aufruf dazu, eine Kultur politischer Entscheidungen zu fördern, die von der Verantwortung für andere getragen ist und niemandem das Recht auf Mitsprache und Selbstbestimmung verwehrt.“ Und der Freiburger Erzbischof Stephan Burger, zuständig für das Hilfswerk „Misereor“, sagte: Amartya Sen stehe „leidenschaftlich an der Seite der Marginalisierten, Armen und Ausgegrenzten.“