Warum geschieht in der Welt so vieles, das die einzelnen Menschen je für sich verabscheuen und bedauern?“ Mit dieser Frage eröffnet Michael Andrick, Philosoph und Direktor für Digitale Transformation in einem internationalen Konzern, seine „Philosophie für die Arbeitswelt“. Er meint dabei nicht die Phänomene, die „wir vielleicht abnorm grausamen Einzelnen, verbrecherischen Politikern und der Imperialpolitik der gerade herrschenden Großmächte zuschreiben“ können. Die Ausbeutung von Menschen, die Zerstörung des Ökosystems durch unser konsumgeprägtes Leben, das im „globalen Süden“ an vielen Stellen menschliches Leid, Perspektivlosigkeit und Verzweiflung verursacht – darauf zielt Andrick ab. Auf Zustände in der Welt, die wir nicht gutheißen – und dennoch täglich neu durch unsere Lebensweise zementieren, oft ohne uns dessen bewusst zu sein, gerade durch unsere industrialisierte Arbeitswelt, die diese Folgen hervorbringt.
„Normalität“ ist das Schlüsselwort für Andricks Überlegungen: Für viele Menschen ist es „normal“, in Berufen zu arbeiten, die gleichzeitig, aber nicht unmittelbar sichtbar, grausame Auswirkungen haben, etwa PR-Berater, Marketingexperten oder Investmentbanker, Autoingenieure oder Reisekaufleute. Andrick sucht „das Prinzip unserer perversen Normalität, ihre treibenden Motive, Denk- und Verhaltensmuster – und deren Ursprung“ zu ergründen. Fündig wird er in der Industrialisierung unseres Arbeitslebens, in dem „gesellschaftliche Arbeit in oft eng gefasste Expertenbereiche aufgeteilt“ ist. Menschen werden zu austauschbaren Funktionären, zu Konformisten in einem System, das auf Ehrgeiz beruht und mit Ansehen belohnt. Der Blick über den Tellerrand ist unerwünscht. „Ehrgeiz ist der für uns vorgesehene Weg zur inneren Leere, die grundlegende Sabotage eines stabilen, wertorientierten und deshalb widerstandsfähigen Selbst.“
„Rationale Arbeit und ein dazugehöriger Kult von Professionalität und Erfolg werden uns als Ordnungsmuster für das ganze Leben angeboten – als Erlösung im Erfolg.“ Wertvorstellungen und Tugenden existieren zwar, aber ohne jene Moralität, die es bräuchte, um die Welt für alle zu einem lebenswerten Ort zu machen. Hier sieht Andrick die Chance der Philosophie – nicht als Wissenschaft, sondern als tägliche Übung. „In dem Moment, in dem wir unsere moralische Eigenständigkeit beachten und fragen, ob der in unserer Arbeitswelt zu erringende Erfolg eigentlich erstrebenswert sei, kommen wir dem System als Funktionär abhanden.“ Dazu darf die Arbeitswelt nicht als eine Wirklichkeit abgespalten werden, die ausschließlich nach eigenen Regeln funktioniert. Und es braucht den Menschen, der zweifelt: „Viele Fragen stellen heißt, den Aufstand gegen die ganze Weltsicht unseres Zeitgeistes proben.“
Es sind erhellende Einsichten in erschreckend reibungslos funktionierende alltägliche Zusammenhänge, die Michael Andrick vorlegt – eine Anregung zum Reflektieren und Philosophieren, über die Arbeitswelt und darüber hinaus.