Weißt du, wieviel Sternlein stehen? Gott, der Herr, hat sie gezählet, dass ihm auch nicht eines fehlet an der ganzen großen Zahl? Wenn wir in klaren Sommernächten – besonders in höheren Gebirgsregionen – ins Universum hinausschauen, können wir ins Grübeln geraten. Denn Gott müsste jede Sekunde seine Statistik korrigieren und ergänzen. Schöpfung war nicht gestern, Schöpfung ist dauernd und mehr noch in Zukunft. Pro Sekunde werden in dem unserer Beobachtung und Messung zugänglichen Weltall mindestens 30000 Sterne geboren und wahrscheinlich ebenso viele Planeten. Insgesamt sind vermutlich eine Trillion Sterne am Entstehen. Das ist eine 1 mit achtzehn Nullen.
Und gleichzeitig sterben unzählige Sonnen ab. Weniger massereiche wie unsere Sonne blähen sich zu einem Roten Riesen auf, um zu einem Weißen Zwerg zu kollabieren und in einem Nebel zu verschwinden. Andere, extrem massereiche, Gebilde hauchen in einem letzten hochexplosiven Akt als Supernova ihr „Leben“ aus, schleudern dabei ihre gesamten äußeren Schichten ins All hinaus, um dann zu einem Neutronenstern oder einem Schwarzen Loch zusammenzustürzen.DieLebensdauer dieser Sterne mit gewaltigster Wasserstoff-Kernfusion und einer Lichtstärke vom Viertausendfachen – oder mehr – unserer Sonne dauert im Gegensatz zu unserem langsam verbrennenden Heimatgestirn oft nur fünfzig bis hundert Millionen Jahre. Eine kosmische Katastrophe jagt die nächste. Und was ist mit den noch kaum verstandenen Schwarzen Löchern, die inmitten der Galaxien oder in der Mitte von extrem leuchtstarken Quasaren gewaltige Mengen an Materie in sich verschlingen, um andererseits wieder Jetstreams von Plasma, Gammastrahlen und sonstigen Teilchen über zigtausende Lichtjahre Entfernung hinauszustoßen – sind die auch göttlich gezählt?
Die Kosmologen haben nicht gezählt, sondern aufgrund von Berechnungen geschätzt, dass es mindestens zweihundert Milliarden Galaxien gibt mit jeweils um die zweihundert Milliarden oder noch viel mehr Sonnen und weiteren seltsamen Objekten, deren Licht, elektromagnetische Strahlung beziehungsweise Radiowellen bereits viele Millionen bis Milliarden Jahre zu uns unterwegs waren, wenn wir sie empfangen. Sobald wir sie „sehen“ oder aufzeichnen, existiert das Ursprungsobjekt möglicherweise oder höchstwahrscheinlich schon gar nicht mehr.
Raum – Zeit – Ewigkeit – Gott
Unterm heimelig romantischen Mond kann uns also rasch sehr unheimlich ums Herz werden, wenn man die Ausmaße von Raum und Zeit bedenkt – und immer weniger weiß, was genau Wirklichkeit sei. Wie flach, wie begrenzt ist das vermeintlich unbegrenzte Universum tatsächlich? Und was kommt „dahinter“? Überhaupt keine Anschauung verbindet sich mit der Frage, was „außerhalb“ sei, weil es mathematisch-physikalisch kein „Außerhalb“ dessen gibt, was durch die Raumzeit bestimmt und seit dem Urknall ins Dasein getreten ist. Noch seltsamer ist der Befund, dass sich die Galaxien aufgrund der postulierten – bisher aber noch nicht nachgewiesenen – dunklen Energie immer weiter voneinander entfernen, immer weiter hinaus, dorthin, wo bisher weder Raum noch Zeit waren. Die Spekulationen und Hypothesen kennen im Gegensatz zum Universum keine Grenzen. Fortlaufende Experimente und Messungen der Teilchen- und Astrophysiker sowie Berechnungen der theoretischen Physiker münden in zum Teil recht abenteuerliche Deutungsversuche beziehungsweise völlig andere Paradigmen von Physik. Sie befördern ständig neue Rätsel und Paradoxien „ans Licht“, je mehr Rätsel gelöst zu sein scheinen.
Noch schwieriger wird es für die religiösen Vorstellungen, sofern sie sich auf diese seltsamen Konstruktionen auch nur ein wenig einlassen und diese mit unseren unmittelbaren, sehr einfachen Anschauungen von Zeit und Ewigkeit verbinden wollen. Denn sämtliche klassischen Begrifflichkeiten versagen. Vor allem dann, wenn wir Ewigkeit intuitiv doch mehr oder weniger als eine unendlich verlängerte Zeit denken. Aber wenn es keine Zeit „vor“ dem Urknall „gab“, in dem Zeit zusammen mit Raum überhaupt erst entstand, was gab es dann? Jedenfalls keine „Ewigkeit“ im landläufigen Sinn.
Und Gott? „Wo“ war „Gott“, als „Nichts“ war, „als“ es „nichts“ „gab“ außer „Nichts“ – in der Singularität „vor“ dem „Urknall“, „vor“ der Energie aller Energie. „Woher“ „kam“ „Gott“? „Wer“ „zeugte“ „Gott“? Warum überhaupt „Gott“?
Jedes Wort, das sich hier einen religiösen Zutritt zu verschaffen sucht, ist falsch, untauglich zur Beschreibung einer Dimension, die keine Dimension hat und keine Dimension ist. Dann aber kommen die nächsten Fragen: Wo war Gott in den Milliarden Jahren seit dem Urknall, als niemand und nichts an ihn dachte, als es überhaupt nichts gab, das an ihn hätte denken können? Nur Materie, Energie, kein Leben, kein Geist. Wozu dieser lange Atem der Zeit ganz ohne ein Gottesbewusstsein, ganz ohne Gottesbeziehung? Gott, so sagt es die konventionelle Theologie, habe sich im Menschen, einem Geistwesen, einen Dialogpartner erschaffen wollen. Warum aber blieb Gott derart lange so „einsam“? Bis irgendwann erst sehr spät der Mensch aus evolutiven Zufällen und Gesetzmäßigkeiten heraus als intelligentes Wesen entstand – so dass sich über sein komplexes Gehirn Offenbarung ereignen konnte, ein Geistesblitz, eine Art zweiter Urknall, der den Menschen das Mysterium als Mysterium ahnen ließ.
Die Erde ist tot, aber Voyager reist
Nicht zufällig waren die frühesten Regungen menschlicher Intelligenz mit Himmelsbeobachtungen und kalendarischen Berechnungen verbunden – und mit der schockierenden, in erster primitiver Höhlenmalerei sich künstlerisch Ausdruck verschaffenden Bewusstseinserfahrung von Geburt und Tod: dass aus Nichts etwas kommt – und dass das Gekommene ins Nichts verschwindet. Woher und wohin? Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?
Unterm nächtlichen Himmelszelt kommen viele weitere ungemütliche Fragen hoch: Wo wird Gott sein, und wer wird an Gott denken, wenn alles irdische Leben in spätestens fünf Milliarden Jahren mit der beginnenden Endphase unserer Sonne, die sich vor etwa 4,6 Milliarden Jahren bildete, ausgelöscht, verschwunden sein wird? Wer wird dann den Namen Gottes anrufen, wenn als einziges menschliches Artefakt womöglich die Voyager-Sonden mit den Botschaften unseres Menschseins und unserer Kultur auf goldenen Datenscheiben für Außerirdische noch immer interstellar durch unsere Milchstraßen-Galaxie sausen, während ansonsten nichts mehr besteht, das an irgendetwas erinnert, was einmal vom Menschen hervorgebracht wurde? Was war und was ist „dann“ mit Gott ganz ohne sein dialogisches Gegenüber Mensch?
Nur nicht darüber nachdenken!? So verdrängt das Kirchenleben mitsamt einer Mainstream-Theologie die heftigsten und urtümlichsten Erschütterungen des Homo sapiens. Und dieser verdrängt sie selber, tut so, als könne er mit ein bisschen Glück, ein bisschen Liebe, ein bisschen Wohlstand und ein bisschen Geborgenheit inmitten vielfältigen Leids und verschiedenster Tragödien in die Unmittelbarkeit des Tages hineinleben. Als sei alles aufs Menschsein hin zentriert, als sei unser unmittelbares, geschäftiges, mit dem Gewöhnlichen beschäftigtes Dasein der ganze Horizont der Dinge. Ist es aber nicht. In die Nacht – auch des Glaubens – hineinleben kann man mit derartiger Seinsvergessenheit jedoch nicht. Irgendwann tauchen sie auf, die großen Paradoxien, die Irritationen, die Sinnfragen. Als ungläubiges Staunen weichen sie dem um Glauben und Verstehen Ringenden nicht von der Seite. So fanden und finden entscheidende „Offenbarungen“ weltlicher wie religiöser Natur nicht selten nachts statt, im „Traum“, in einer Eingebung voller Faszination, Staunen, Furcht und Zittern.
Nächte für die Glaubensfrage
Eigentlich wusste man in der religiösen Tradition – in der jüdisch-christlichen besonders – stets um die heiligen Nächte, in denen sich so etwas wie Gotteserfahrung anbahnt, Gottesgeburt ereignet: in der Seele von Einzelnen. In unserer Zeit, die alles auf den Tag und das Taghelle setzt, scheint dieses wahrhaft Mystische, weil Dunkle des Sehens, zu verschwinden. Die Nacht der Erschütterung ist selbst im Kirchenbetrieb weitgehend ausgeblendet und durch eingängige, allzu oft banale Lebensberatungs-Weisheiten ersetzt worden. Bis zum Überdruss lenkt moralische Belehrung ab von dem, was die individuelle Existenz in heftigste Wallung versetzen könnte und müsste. Harmonisch soll es dabei zugehen. Klar geordnet. Einfach geregelt zwischen Gut und Böse. Aus der Religion, die im Kern viel mehr ans Vage, Ungenaue, Erschreckende rührt und die Unschärfe von Sein und Zeit ins Daseins-Spiel bringt, flüchtet sich die kirchliche Geschäftigkeit inzwischen in wohlgefällige Trivial-Appellmoral. Als hätte diese niemand gewusst.
Gewiss: Moral hat auch früher und immer das Religiöse begleitet, es aber nicht ersetzt. Inzwischen macht Moral als Hypermoral der Religion den Garaus. Kirchliche Botschaften werden bevorzugt als ethische Botschaften unters Volk gebracht. Vielleicht, weil die Medienöffentlichkeit mit Vorliebe nur das Leichte und nicht das Schwere, Komplizierte, Widerborstige, was Religion wesentlich ausmacht, hören möchte. Wer aber will die jedermann bekannten Allerweltsweisheiten hören? Und wer findet darin wirklich das, was ihn aus dem existentiell Bedrohlichen, Abgründigen rettet und auf die große Spur des Ewigen bringt?
Der Philosoph und Publizist Alexander Grau schrieb in einem Essay über die Hypermoral als „die letzte Ideologie“: „Nicht dass in anderen Epochen moralisch begründete Handlungen und Restriktionen keine Rolle gespielt hätten – im Gegenteil. Doch erstmals in der abendländischen Kulturgeschichte ist Moral heutzutage nicht länger der Ausdruck eines übergeordneten und normierenden Wertesystems wie etwa der Tradition oder einer Religion. Der moderne moralische Diskurs kreist vielmehr ausschließlich um sich selbst und bekommt damit nicht nur eine singuläre Geltung, sondern zugleich eine meinungsbildende Monopolstellung, die andere Erwägungen diskreditiert. Geradezu reflexartig werden technische, wissenschaftliche oder ökonomische Probleme zu moralischen Fragen umgedeutet und in einen süßlichen Moralismus übersetzt.“
Das Wunder des Jenseits
Einst folgte aus der Religion die Moral, aus der christlichen Heilszusage Gottes die Aufforderung zum richtigen und guten Tun. Heute aber folgt umgekehrt aus der Moral vielfach nichts – jedenfalls nichts Religiöses.
Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff beklagte neulich, dass sich in den Kirchen im Grunde eine „areligiöse Gesellschaft“ breitgemacht habe. Sie hätten „vom Jenseits überhaupt keine Vorstellung mehr“. Aber das Jenseits ist das Entscheidende des Religiösen, es ist das eigentlich Spannende. Dieses Jenseits legt sich beim nächtlichen Blick auf das Firmament und dessen „Jenseitiges“ – jenseits menschlicher Anschauungskraft und Logik – ganz diesseitig nahe. Nachdenkliche Leute stellen sich solche Fragen, oft eher unbewusst als bewusst, nicht zwingend mit intellektueller Schärfe. Nächtens kann es über einen kommen. Dann spüren die davon Ergriffenen auch, dass es mit den üblichen religiösen Vorstellungen nicht mehr übereingeht. Hier liegen die eigentlichen Ursachen religiöser und christlicher Entfremdung, die Ursprünge der epochalen Glaubens-, ja Gotteskrise.
Unterdessen wird in der Pastoral weiter so getan, als gäbe es die faszinierenden Sommernachtsträume, die sich zu Albträumen auswachsen können, nicht. Dabei könnten die Wunder über Wunder des Sichtbaren den Keim legen für ein Transzendieren mit Transzendenz.
So träumen wir in mancher Sommernacht die Himmelsleiter auch wieder hinab in den Kirchenalltag – wie er anders sein könnte. Zum Beispiel: dass sich die seelsorgliche Verkündigung samt der diakonischen Verkündigung einmal ein Bußschweigen in Sachen Moral verordnet. Wie befreiend wäre es, mal nichts zu hören von dem, was jeder auch ohne die Inflation der Sozialappelle, Politik- und Wirtschaftsempfehlungen sowie sonstigen Mahnreden von Papst, (Landes-)Bischöfen, Pfarrern, Diakonen, Pastoralreferentinnen und Lobbyisten für viele gute Zwecke zur Genüge weiß. Wie erfrischend: nichts zu Flüchtlingen und Klimawandel, zu Macht und Machtmissbrauch, zu Sex und Gerechtigkeit, zu Tierwohl und Weltwirtschaft, zu Finanzkrise und Rassismus. Vierzig Tage und vierzig Nächte „ohne“, ganz „ohne“.
Der Kosmos singt
Stattdessen dürfen wir wieder träumen vom neuen Himmel und von der neuen Erde, von der frohen Botschaft der Auferstehung, von dem, was unserem sterblichen irdischen Leben zum Besten gereicht, von Sündenvergebung und glückseliger Gottesschau. Wir tun nichts anderes als feiern: Sakramente mit dem Vorgeschmack einer Herrlichkeit, die nicht endet; Eucharistie, die uns die Freude eines ewigen Gastmahls spiegelt; eine Christusfreundschaft und Geistbegabung, die mit der Lust am Leben die Lust auf Gott weckt; Schöpfung nicht als bedrohtes Jammertal, sondern bei allen Katastrophen als Wunder der Naturgesetze, des Sichtbaren, der Sinne, der Sinnlichkeit und als Trost der Seele. Hoffnung, nichts als Hoffnung in der Schönheit einer göttlichen Liturgie, die alles plaudernde Reden hinter sich lässt. Eucharistie als Hineingleiten in die Schwerkraft eines anderen Raums und einer anderen Zeit, einer Dimension, die alles Gewöhnliche vergessen lässt. Mit einer Energie, die Gefühl und Verstand erhebt und schweben lässt.
Wie schön wäre solch ein Sommernachtstraum, wenigstens für besagte Nächte – ohne Pastoralvorschläge, ohne Reformdebatten, ohne ethische Anweisungen. Dafür reines Schauen, Lauschen und Sich-weg-Sinnieren ins Weite unterm Sternenzelt. Gern auch mit dem „Kosmischen Gesang“ des verstorbenen nicaraguanischen Priesterdichters Ernesto Cardenal: „Am Anfang/– vor der Raum-Zeit,/war das Wort. Alles, was ist, ist also wahr. Gedicht./Die Dinge existieren in der Form von Wörtern./Alles war Nacht, usw./Es gab weder Sonne noch Mond, noch Menschen, noch Tier, noch Pflanzen./War das Wort. (Das Wort der Liebe.)/Geheimnis und gleichzeitig sein Ausdruck./Das, was ist und gleichzeitig ausdrückt, was es ist:/‚Als es am Anfang noch niemanden gab, schuf er die Worte … und gab sie uns…‘/Am Anfang war also das Wort./Der, der ist und sagt, was er ist./Das heißt:/dersichvollkommenausdrückt./Geheimnis, das sich gibt. Ein Ja./Er ist an sich ein Ja./Enthüllte Wirklichkeit./Ewige Wirklichkeit, die sich ewig enthüllt./Am Anfang…/Vor der Raum-Zeit,/bevor ein Davor war,/am Anfang, als es nicht einmal einen Anfang gab,/am Anfang,/da war die Wirklichkeit des Wortes./Als alles Nacht war, als/alle Wesen noch dunkel waren, bevor sie Wesen wurden,/war es eine Stimme, ein klares Wort/ein Gesang in der Nacht…/Hörst du jene Sterne? Irgendetwas müssen sie uns sagen./Der Chor der Dinge./Geheime Melodie der Nacht./Äolische Harfe, die allein erklingt nur durch die Berührung der Luft./Der Kosmos singt.“