Was unsereinem in einer äußerst glücklichen Friedensblase von nunmehr 75 Jahren kaum bewusst ist, hat der Schriftsteller Alexander Solschenizyn einmal ausgesprochen: Das 20. Jahrhundert ist ein Jahrhundert der Gewalt wie keines davor, und das geht weiter. Beginnend mit der Industrialisierung des Mordens im Ersten Weltkrieg, mit traurigen Höhepunkten wie Dresden, Hiroshima und vor allem Auschwitz kommt brutal zutage, was man die Nachtseite der Moderne genannt hat: Vergewaltigung und Gewalt, Missachtung und Unterdrückung des oder der Anderen. Aktuell kommt das Thema etwa in der Gender-Debatte über Gewalt zwischen den Geschlechtern auf den Tisch und vor allem in der ökologischen Dramatik der menschlichen Gewalttätigkeit gegenüber Mutter Erde und der Schöpfung. Gleichzeitig fanden im 20. Jahrhundert etliche bedeutsame Zusammenschlüsse und Vereinigungen ihren Anfang: Völkerbund und Weltkirchenrat, Vereinte Nationen und Europäische Union, der Dialog der Religionen und die Ökumene aller Gutwilligen, ja Globalisierung überhaupt. Die Welt wächst zusammen. Die Menschheit wird eins – oder sie geht im Strudel der Selbstzerstörung und der Gewaltspiralen zugrunde und sägt sich ökologisch den Ast ab, auf dem sie sitzt.
Vor diesem Hintergrund ist an eine große Stifterfigur zu erinnern, die am 22. Januar vor hundert Jahren in Trient geboren wurde: Chiara Lubich. Hellsichtig und seismografisch hat sie auf die Erfahrung von Gewalt und die Sehnsucht nach Gewaltüberwindung reagiert. Programmatisch hat sie Einheit, Liebe und damit Frieden in den Mittelpunkt gestellt – und dies so entschieden aus christlicher Überzeugung, dass man sie zu den prophetischen Mystikerinnen-Gestalten der Gegenwart zählen darf. Dass sie damit auf besondere Weise das Thema „Gottes Gegenwart in der Welt von heute“ in den Blickpunkt rückt, ist ebenso selbstverständlich wie bedenkenswert. Erstaunlich jedenfalls ist, dass diese Norditalienerin mit ihrer wortwörtlich bewegenden Spiritualität hierzulande im Mystikgespräch erst noch zu entdecken ist, jedenfalls außerhalb der inzwischen weltweit verbreiteten Fokolar-Bewegung. „Dass alle eins seien“ (Joh 17,21), ist ihr Lebensmotto. Es geht um die Vision einer wirklich geschwisterlichen Welt(gemeinschaft).
Riskierte Einheit
Silvia Lubich ist das zweite von vier Kindern in einer Familie, in der beide Eltern arbeiten mussten. Katholisch erzogen und geprägt, bekommt sie gleichwohl durch den sozialistischen Vater und den älteren Bruder Gino – später Partisan im Zweiten Weltkrieg, dann Journalist für die kommunistische Zeitung „L’Unità“ – genug mit von den Nöten der Mussolini-Zeit. Sie nimmt aktiv am kirchlichen Leben teil, bereits als Fünfzehnjährige in der Katholischen Aktion. Nach der entsprechenden Ausbildung wirkt sie als Grundschullehrerin. Später erinnert sie sich: „Auf der Suche nach der Wahrheit die antiken und modernen Philosophien zu erforschen, war das, was meinen Geist und mein Herz voll zufriedenstellte. Jedoch – kirchlich erzogen und vermutlich durch den Impuls des Geistes angespornt – merkte ich rasch, dass ich vor allem von einem tiefen Interesse gepackt war: ‚Gott kennenzulernen‘.“ Durch ihre Lehrtätigkeit bei Waisenkindern in Sozialeinrichtungen der Kapuziner wird sie vertraut mit der franziskanischen Spiritualität, tritt dem Dritten Orden der Franziskaner bei und wählt in Verehrung zu Klara von Assisi deren Namen Chiara – und der ist Programm.
In der Klarheit österlichen Glaubens wird sie besonders erschüttert von dem Kreuzesschrei Jesu und seiner völligen Verlassenheit, Inbild aller Leidenden und allen Elends. 23-jährig antwortet Chiara dem Lockruf ihres Gottes, den sie einladend sagen hört: „Schenk dich mir ganz.“ In der Frühmesse des 7. Dezember 1943 weiht sie sich in einem privaten Gelübde ganz und für immer dem ehelosen Leben: „Ich habe Gott geheiratet!“
„Fuoco“ und „Paradiso“
Diese Liebe Gottes will konkret gelebt sein. Chiaras Spiritualität zielt fern aller Gefühligkeit und Schwärmerei auf Verwirklichung im alltäglichen Tun. Als Trient im Mai 1944 schrecklich bombardiert wird, entscheidet sie sich, in der Stadt zu bleiben und zusammen mit den ersten Gefährtinnen mitten in Not und Chaos zu helfen, wo immer möglich. Gerade mitten in Trümmern und Chaos sind ihnen Bibelteilen, Gebet und Eucharistie Orientierung. Im transparenten Umgang der jungen Frauen untereinander sowie in ihrem sozialen wie diakonischen Dienst an den Notleidenden geschieht die „klare“ Hingabe an Gott. So entsteht der erste „Focolare“, der erste Herd- oder Brennpunkt, wie man das italienische Wort, vom Italienischen fuoco („Feuer“) abgeleitet, übersetzt. Es ist eine Wohn- und Lebensgemeinschaft, in der das Zentralthema „Einheit in Liebe“ familiär verwirklicht wird – ein vierter Weg neben Kloster, Ehe und alleinstehend in der Gesellschaft.
Folgenreich und grundlegend für jene Bewegung, deren Mitglieder fortan „Focolarini“ genannt werden und die kirchenrechtlich erst 1962 als „Werk Mariens“ anerkannt wurde, ist eine mystische Erfahrung 1949 in den Dolomiten. Chiara Lubich nannte sie „Paradiso“.
Neu und für immer geht Chiara dort auf: Die Einheit mit anderen Menschen gründet im Innersten Gottes selbst, im Schoß des Vaters. Je mehr sie sich mit Jesus, dem Verlassenen, innigst verheiratet und vereint weiß, desto mehr erkennt sie in ihm und durch ihn und mit ihm den unglaublichen Beziehungsreichtum Gottes selbst. „An diesem Punkt schien mir, dass mein religiöses Leben anders sein musste, als ich bisher gelebt hatte: Es dürfte nicht so sehr darin bestehen, auf Jesus ausgerichtet zu sein, als vielmehr darin, mich an seine – unseres Bruders – Seite zu begeben und auf den Vater ausgerichtet zu sein.“ In dem „Pakt der Einheit“, den die Mitglieder der Gemeinschaft untereinander schließen, wird das trinitarische Leben Gottes selbst anschaulich, und zwar nicht nur als Erlebnis oder bloßes Gefühl, sondern als Lebenspraxis in der ganzen Banalität des Alltäglichen und des Diakonischen. Das alte biblische Zentralthema der Einheit von Gottes- und Nächsten-, ja Feindesliebe hat Chiara Lubich endgültig und originell eingeholt.
Die Fokolar-Bewegung wächst nun erstaunlich schnell zu einem Netzwerk verschiedener Gruppen und Zentren. Es kommt zu regelmäßigen Treffen, die „Mariapoli“ heißen. Die ursprüngliche Frauenbewegung öffnet sich für Männer, Verheiratete sind ebenso willkommen wie Unverheiratete. 1954 wird der erste Priester Mitglied. 1966 entsteht die Jugendbewegung „Gen“, die schnell wächst. Seit 1957 ist die Internationalisierung der Bewegung im Gange, ökumenisch offen für andere Konfessionen und Religionen sowie bedacht auf missionarische Ausstrahlung in alle Erdteile. Chiara Lubich, die 1965 in die Nähe von Rom zieht, ist weiterhin führend durch ihre charismatische Gestalt, ihre inspirierenden Vorträge sowie ihre kreativen Initiativen bis in den Raum der Wirtschaft und Politik hinein. Sie findet vielfältige Anerkennung – innerkirchlich zum Beispiel bei den Päpsten, beim Ökumenischen Patriarchen Athenagoras I. von Konstantinopel und Michael Ramsey, dem anglikanischen Erzbischof von Canterbury, außerkirchlich in vielen Konferenzen und Ehrungen, auch mit dem Bundesverdienstkreuz. Der stets fragilen Gesundheit geschuldet, aber viel mehr wohl dem Mitleiden, der Mitleidenschaft mit dem verlassenen Jesus, bleiben ihr bis zuletzt Erfahrungen der dunklen Nacht und Dunkelheit nicht erspart. Am 14. März 2008 stirbt sie hoch verehrt in Rocca di Papa. Am 27. Januar 2015 wird der Selig- und Heiligsprechungsprozess im Dom von Frascati feierlich eröffnet.
Heilige Kommunion
Wer sich in das Leben Chiara Lubichs und ihre Mystik vertieft, muss immer wieder zurückkehren zum hochzeitlichen Gelübde der jungen Frau. Sie ist einfach hingerissen von der Gestalt Jesu – und dies in der ganzen Wucht einer persönlichen Erwählung. „Noch lieber als über den christlichen Humanismus zu reflektieren, denke ich einfach daran, dass Jesus, der menschgewordene Sohn Gottes, für mich gestorben ist. Wie sollte man da nicht glücklich sein, sich nicht in ihm am Leben freuen, ihm nicht unser aller Leid anbieten? Wenn Christus für mich gestorben ist, dann wird er unablässig an mich denken, mich immer lieben. Und ich? Ich kann nicht anders, als ständig an ihn zu denken. Auch ich möchte ihn immerfort lieben.“
Chiara Lubich gehört auf eine sympathisch diskrete und zugleich klare Weise in die Reihe jener Liebesmystikerinnen, welche die erotische Dimension des Glaubens wörtlich nehmen und im eigenen Leben und Wirken real werden lassen. Nicht zufällig steht deshalb die Eucharistie im Mittelpunkt ihrer Frömmigkeit – aber nicht enggeführt auf Ritual oder isolierte Liturgie, sondern als gelebte Einheit, als kommuniale Lebensform im Alltag der Welt. Entsprechend darf man Lubichs Verständnis von Einheit keinesfalls harmonistisch missverstehen, als würde das bleibend Plurale oder auch Konfliktive unterschlagen oder unterbelichtet. Ganz im Gegenteil. Eucharistische Einheit lebt aus der selbstlosen Hingabe Christi; und der ist derart in Gott gegründet und also selbstbewusst, dass er ganz selbstlos „für euch und für alle“ da sein konnte und wollte.
Dass ihn das bis ans Kreuz geführt hat, zeigt, dass die aus solcher Liebe erwachsende Einheit ein Höchstmaß an Unterscheidungskraft und konfliktiver Auseinandersetzung möglich und meist auch dringlich macht. So viel Gewalt unserer jüngeren Geschichte entsteht aus der Angst, zu kurz zu kommen, und entsprechend aus einem Verständnis von Einheit, das andere egoistisch beziehungsweise nationalistisch ausgrenzt und uniformistisch vernutzt. Ganz anders die typisch christliche Vision von Einheit bei Chiara Lubich. Sie betont die Unterschiedlichkeit wie schon 1949 im „Paradiso“: „Unsere Kommunionen waren also (gleichzeitig) drei: jene mit Jesus in der Eucharistie, in seinem Wort und jene unter uns“ – und dies in Verantwortung für alle und in der Option für und mit den Armen. Eucharistische Existenz widersteht also jedem ichbezogenen Individualismus und darf weder eine harmoniesüchtige Einkapselung nach innen befördern noch eine Abkapselung nach außen. Sie schenkt Anteil an jener Weite des trinitarischen Gottes, der die Vielfalt der Welt ständig schafft und unermüdlich an ihrer Erlösung arbeitet – in Gestalt von Menschen, die sich von ihm verbindend und verbindlich bewegen lassen. Der Maßstab ist die Würdigung des Anderen in seinem Anderssein.
Mystik der Abwesenheit Gottes
In geschwisterlicher und mütterlicher Achtsamkeit nimmt Chiara Lubich sich des armen Jesus in der Welt an und begegnet ihm in jedem Armen. In ihrem „Liebesbrief an ihren Bräutigam“ – einem der bewegendsten, aber auch missverständlichsten Texte der jüngeren christlichen Spiritualitätsgeschichte – heißt es: „Ich habe nur einen Bräutigam auf Erden: Jesus, den Verlassenen. Ich habe keinen Gott außer ihm. In ihm ist der ganze Himmel mit der Dreifaltigkeit und die ganze Erde mit der Menschheit. Was sein ist, ist also mein, sonst nichts. Und sein ist der Schmerz der ganzen Welt – deshalb auch mein. Ich werde durch die Welt gehen und ihn suchen, in jedem Augenblick meines Lebens. Was mir wehtut, ist mein. Mein ist der Schmerz, der mich im Augenblick trifft. Mein ist der Schmerz der Menschen neben mir (das ist mein Jesus). Mein ist alles, was nicht Friede, was nicht Freude, was nicht schön, nicht liebenswert, heiter ist …, kurz: all das, was nicht Paradies ist. Denn auch ich habe mein Paradies, doch es ist das Paradies im Herzen meines Bräutigams. Ein anderes kenne ich nicht. So werde ich durch die Jahre gehen, die mir bleiben: dürstend nach Schmerz, Angst, Verzweiflung, Schwermut, Trennung, Verbannung, Verlassenheit und inneren Qualen, nach allem, was er ist, und er ist die Sünde (vgl. 2 Kor 5,21). So trockne ich das Wasser der Trübsal in den Herzen vieler, die mir nahe sind, und durch die Gemeinschaft mit meinem allmächtigen Bräutigam auch in denen, die fern von mir sind. Ich werde vorübergehen wie Feuer, das verzehrt, was vergehen muss, und nur die Wahrheit bestehen lässt.“
Der Fern-Nahe
Der Bochumer Pastoraltheologe Matthias Sellmann spricht hier mit Recht von jener „Mystik der Gottesabwesenheit“, die Christen und Kirchen heute aufgegeben ist. Er bringt sie in Zusammenhang mit Dietrich Bonhoeffers Aufzeichnungen aus dem Gefängnis und den Tagebüchern von Mutter Teresa. In der Tat gehört Chiara Lubich zu denen, die seit Franz von Assisi und Mechthild von Magdeburg im 13. Jahrhundert von der „Gottesentfremdung“ im Glauben wissen und dem Geheimnis des mitleidenden Gottes auf der Spur sind. „Gottes quitt werden um Gottes willen“, lautet das Programm eines Meister Eckhart, und seine tragische Glaubensschwester Margareta Porete nennt Christus den „Fern-Nahen“.
Neuzeitlich rückt das Glaubensbild von der dunklen Nacht jetzt in den Mittelpunkt. Wohl seit Thérèse von Lisieux gewinnt diese Mystik der Compassion, des mitgehenden Mitleidens, einen ausdrücklich kommunialen und sozialen Akzent. Sie weiß sich in der Gemeinschaft mit Christus „an den Tisch der Atheisten versetzt“. Gottesfinsternis wird zum Zeitzeichen. Atheisten und Theisten, Nichtglaubende und Glaubende nähern sich von zwei Seiten demselben Geheimnis universaler Solidarität. Auf dieser Linie ist es Chiara Lubich, die den Gemeinschafts- und Solidaritätsaspekt entschieden zur Geltung bringt. Glauben in der Nachfolge Jesu ist da das treue Aushalten von Gottes Abwesenheit, genauer noch die Bereitschaft, sich seiner Sache in der Welt anzunehmen und seine Abwesenheit als Weise seiner Gegenwart im Vorübergehen zu entziffern. Auch „die eigene Einsamkeit und Verlassenheit selbst wird zum Ort, an dem die Liebe Gottes ihm (nämlich dem glaubenden Menschen) begegnet“ – so kommentierte Bischof Klaus Hemmerle, einer der Schüler und Freunde Chiara Lubichs.
Glauben ist, zumal in der Gemeinschaft mit Jesus, leidsensible Anteilnahme am Elend der Welt und Mitvollzug von deren Wandlung. Glaube ist das Vermissen Gottes, bis er kommt in Herrlichkeit – aber dies in der österlichen Gewissheit, wie sehr er uns fehlt, und in dieser Fehlanzeige doch schon da ist. Chiaras Text hat also überhaupt nichts mit Leidverliebtheit oder negativem Denken zu tun. Aber er stellt sich schonungslos und desillusionierend der Gewalt und dem Leid in der Welt. Er konfrontiert hoffnungsstark und lebenspraktisch mit dem, was im Namen Jesu zu tun ist.
Die dunkle Nacht des (österlichen!) Glaubens ist etwas sehr anderes als depressive Schwere und Dunkelheit. Denn sie lebt, wie Chiara Lubich immer wieder unterstreicht, von der Gewissheit, dass Christi Selbstlosigkeit bis zum Äußersten gerade Ausdruck jener versöhnenden und vereinigenden Liebe ist, die Gott selbst ist. Theoretisch gesehen, hätte Gott ja die Welt und den Menschen auch ohne Leiden erlösen können, tatsächlich aber nicht. Denn jenseits von Eden sind die Verhältnisse derart gewalttätig, dass nur jene Frieden bringen und Einheit stiften können, die jeweils Gewalt nicht mit Gegengewalt beantworten und sich deshalb der Gefahr aussetzen, selbst Opfer der Gewalt zu werden. Die französische Philosophin Simone Weil, auch sie eine geistliche Schwester Chiara Lubichs, notierte treffend: „Der falsche Gott macht aus Leiden Gewalt, der wahre Gott macht aus Gewalt Leiden“ – genauer gesagt: Mit-Leiden aus Passion, bis der Morgenstern der Einheit, der niemals mehr untergeht, endlich überall aufgeht. Die daraus erwachsende Einheit ist nicht uniform(istisch), sondern trinitarisch, beziehungsstark, aufschließend, vernetzend, immer die Verlorenen und Verlassenen im Blick und von ihnen her handelnd, „für euch und für alle“. In der Sprache christlichen Glaubens ist diese Einheit also nicht nur eucharistisch, sondern trinitarisch.
Dreifaltig leben
Sowohl vom Leitmotiv der Eucharistie wie vom Blick auf den verlassenen Jesus her wird Einheit als Beziehung von Unterschiedenen verstanden. Wie könnte es auch anders sein, wenn das biblische Hauptgebot der Gottes- und Feindesliebe ernst genommen werden will. In Jesus sind Gott und Mensch für immer eins und einig geworden, aber unvermischt, eben als Liebe. Gott wird derart glaubhaft als Ereignis sich ständig schenkender, schöpferischer Liebe – und der Mensch wird wirklich und radikal empfänglich dafür, Mitliebender zu sein und zu werden. „Vergessen Sie nie: Gott liebt Sie über alle Maßen!“ Diese Zusage aus jungen Jahren prägt Chiara Lubichs Gewissheit, überall jene Einheit in Beziehung zu fördern, die man Liebe nennt. Deren Grundformel heißt bekanntlich: eins und eins ist drei. Zwei finden sich verbunden und beschenkt in einem Dritten, das in ihnen selbst wirkt.
Im Text über das „Paradiso“-Erlebnis spricht Chiara Lubich deshalb von Anima gemäß dem biblischen „Ein Herz und eine Seele“. Diese Liebe „bedeutet, dass man – da man Einheit schließt – eins ist, dass man die Anima ist, dass aber jeder, als Einzelner, Anima ist, dass jeder die Anima ist: Man ist also nach Art der Dreifaltigkeit.“ Das Bekenntnis zum dreieinigen Gott ist nicht himmlische Mathematik, sondern Grundgesetz gelingenden Lebens: Im Ursprung ist Beziehung, und jeder Mensch ist befähigt, sich lieben zu lassen und mitliebend zu werden. „Dreifaltig leben“ – unter diesem treffenden Titel hat jüngst Stefan Ulz das gesamte Lebenswerk Chiara Lubichs glänzend entfaltet. Sie selbst sprach von trinitizzarsi, also „sich trinitisieren“, sich in der Liebe Christi verbinden lassen und Einheit als Beziehung leben.
Nichts wäre Chiara Lubich unangenehmer gewesen als Schönfärberei. Auch ihre Vision vom geschwisterlichen Leben hat ihre Grenzen und Gefahren, und das zeigt sich womöglich auch in Geschichte und Gestalt ihrer Bewegung. Lässt etwa die entschieden kirchliche Gestalt ihres Charismas genug Raum für notwendige Kirchenkritik? Muss das Konzept geistgewirkter Einheit nicht noch ausdrücklicher durch den Feuerbach der Religionskritik und auf den Prüfstand postmodernen Pluralitäts- und Differenzdenkens? Werden die realen Auseinandersetzungen auch in der faktischen Kirche wirklich zureichend und transparent ausgetragen? Steckt in der Beschwörung von Einheit doch eine Schlagseite zu harmonistischer Affirmation des bloß Bestehenden? Harte Lebensthemen wie Macht, Konflikt, Kampf geraten womöglich zu schnell unter den Deckmantel vielfach beschworener Liebe. Auch wohlgesonnene Sympathisanten bemerken eine gewisse Neigung zur sektenhaften Selbstisolierung und inzüchtigen Selbstgenügsamkeit – ganz im Widerspruch zum maßgebenden Gründungsgeschehen und zum Geist des Ganzen. Denn der hat die tatsächlichen Verhältnisse im Blick und sucht stets deren Erneuerung: Nur dieser Blick auf den verlassenen Jesus bewahrt vor einem romantisierenden Missverständnis der empfohlenen Einheit. Genau von dieser Perspektive erzählen beeindruckend Chiara Lubichs Segensgeschichte und die ihrer Gemeinschaft.
So war es nicht zufällig, dass Papst Johannes Paul II. just Chiara Lubich bat, das erste Weltfriedensgebet 1986 in Assisi vorzubereiten – zusammen mit ihrem Landsmann und Geistesverwandten Andrea Riccardi, dem Gründer der ebenfalls weltweiten geistlichen Basisbewegung Sant’Egidio. In solcher Gemeinsamkeit des Betens findet der Schrei des verlassenen Jesus in Gestalt jedes Verlassenen Gehör – und das Ende der Gewalt kommt in Sicht.
Von vielen vergleichbaren Initiativen zu Frieden und Versöhnung auch aus jüngster Vergangenheit wäre zu berichten – etwa von den erstaunlichen Friedenscamps in ganz Europa, in denen Jugendliche aus Ost und West im Foco-Geist jene Einheit gestalten, die in Spannungsgebieten erst recht dringlich geboten sind, wie zum Beispiel go4peace. Immer gilt dabei der Wunschzettel Chiara Lubichs: „Ich möchte der Welt bezeugen, dass Jesus, der Verlassene, jede Leere ausfüllt, jede Finsternis erleuchtet, jede Einsamkeit begleitet, jeden Schmerz beseitigt und jede Schuld getilgt hat.“
Literatur:
Bernd Aretz (Hg.): „Chiara Lubich. Ein Leben für die Einheit“ (Neue Stadt, 2019)
Stefan Utz: „Dreifaltigkeit leben. Trinitarische Anthropologie bei Chiara Lubich“ (Echter, 2019)