Sinn“ ist derzeit das Trendthema in Wirtschaft und Arbeitswelt. Doch anders als in früheren Zeiten scheinen die verfassten Religionen dabei kaum eine Rolle zu spielen. Ein Grund ist sicher die heutige Dominanz der Naturwissenschaften: Diese, so glauben viele Menschen bewusst oder unbewusst, könnten in absehbarer Zeit alle Rätsel des Lebens und des Menschseins lösen. Gleichzeitig jedoch mehren sich die Zeichen, dass diese Hoffnung wohl nicht aufgehen wird. Welche Bedeutung haben also Religion und Transzendenz für den Menschen? Darüber machen sich in ihrem Buch der Historiker Martin Klüners und der Kulturwissenschaftler Jörn Rüsen, einer der bedeutendsten Geschichtstheoretiker seiner Generation, Gedanken. Der Band ist Teil der Reihe „Philosophie und Psychologie im Dialog“. Und so ist auch dieses Buch als wissenschaftliches Zwiegespräch angelegt. Die Autoren beschreiben und belegen ihre Sicht der Dinge, anschließend kommentieren beide den Aufsatz des anderen. Abgeschlossen wird der schmale Band von einem eher persönlichen Brief von Martin Klüners an Jörn Rüsen.
Klüners, Experte insbesondere für Geschichtsphilosophie und Psychoanalyse, beginnt mit einer Ausdeutung der „Seele“ in frühen Religionen, der abendländischen Philosophie sowie den Wissenschaften, speziell der Psychoanalyse. Ebenso durchleuchtet er die Begriffe „Vernunft“ und „Glaube“ in historischer Sicht. Religion sei letztlich nicht in erster Linie der Glaube an einen Gott oder an Götter, sondern Lebenshilfe, sozusagen eine „vorwissenschaftliche Seelenkunde“. Sie diene außerdem als Brücke zwischen der realen Außenwelt eines Menschen mit ihren Anforderungen und der eigenen Innen- und Vorstellungswelt.
Jörn Rüsen, emeritierter Professor der Universität Witten/Herdecke, fächert insbesondere den Begriff „Sinn“ in verschiedene Dimensionen auf: Raum, Zeit und Selbstverständnis des Menschen als Mensch. Ebenso befasst er sich mit den verschiedenen Dimensionen von Geschichte, etwa der politischen, der psychologischen, der ästhetischen und der religiösen Dimension. Rüsen deutet Religion als Teil des historischen Denkens, als prägendes Element von Kultur und menschlicher Lebensgestaltung. Alle Versuche von „Ersatzreligionen“ der Neuzeit – von Ideologien, Moralkonzepten bis hin zum Fußball – hätten niemals die gleiche lebenskraftspendende Wirksamkeit gehabt. So plädiert Rüsen für eine Renaissance der Religion, allerdings in transformierter Form.
Das Buch befasst sich mit einem wichtigen Thema, gerade im Epochenwandel von analogem zum digitalen Leben und Arbeiten. Es ist allerdings keine leichte Kost. Die höchst anspruchsvolle, durchgehend klassisch akademische Sprache wird nicht jedem Leser, jeder Leserin zusagen, geschweige denn Lust auf mehr machen. So wird der Band vermutlich kaum den universitären Raum verlassen – angesichts der Dringlichkeit des Themas sehr bedauerlich.