Das altehrwürdige Asturien liegt auf halbem Weg zwischen dem Baskenland und Santiago de Compostela an der rauen Küste der Biskaya, nach Süden abgeriegelt vom Kernland Kastiliens durch eine schroffe Bergkette. Die Felsformationen ragen bis zu 2600 Meter in die Höhe. Los Picos de Europa, die Bergspitzen Europas, so tauften einst die Walfänger das, was sie nach langer Fahrt im Nordmeer als Erstes wieder von ihrer Heimat zu sehen bekamen.
Die heutige Autonome Region beherbergt eine Vielzahl spätantiker und frühmittelalterlicher Kunstschätze, wie es sie in dieser Dichte und Schönheit kein zweites Mal gibt. Warum ausgerechnet hier? Wie kam es zu dieser großartigen Konzentration? Gründe genug für eine Entdeckungsreise nach Oviedo, in die Hauptstadt der Region. Eine Reise, auf der sich Vergangenheit und Gegenwart manchmal unversöhnt kreuzen.
Oviedo ist heute ein Dienstleistungs- und Verwaltungszentrum, eine moderne Stadt, in der die Spuren der Industrialisierung langsam verblassen. Mit dem ersten Kohleabbau im 18. Jahrhundert und der Errichtung einer königlichen Waffenfabrik begann der Aufstieg zur Industriestadt. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich ein Ring gesichtsloser Neubausiedlungen gebildet. Die Innenstadt dagegen prägen herrschaftliche Stadtvillen mit prächtigen Fassaden und palmenbestandenen Vorgärten, die den fernen Süden beschwören. Villen mit verglasten Veranden aus Schmiedeeisen oder gedrechseltem Holz strahlen eine großbürgerliche Eleganz aus. Wohlhabende Heimkehrer aus den südamerikanischen Kolonien ließen sie einst errichten. Von den Zeitgenossen wurden sie „Indianos“ genannt, weil sie ihren Reichtum unter den Indigenen gescheffelt hatten und sich in der Heimat durch die barocke Ausschmückung von Kirchen und öffentlichen Gebäuden Denkmäler errichteten.
Das Juwel Oviedos ist die weitgehend verkehrsberuhigte historische Altstadt mit ihren Plätzen, Palästen und engen Gassen, die herrliche Ausblicke eröffnen auf die Kathedrale San Salvador mit einem der schönsten Kirchtürme Spaniens. Spät am Abend bei sommerlichen Temperaturen und einer leichten Brise – obwohl Oviedo mehr als dreißig Kilometer vom Meer entfernt liegt, hat es ein maritimes Klima – mutet die Stadt wie eine stimmungsvolle Filmkulisse an.
Von der südlichen Altstadt geht es steil hinauf in Richtung Kathedrale über die Plaza de la Constitución mit ihren wunderschönen Arkaden. Über die Bischofskirche San Salvador schrieb der kunstbeflissene Reiseschriftsteller Helmut Domke, sie berge die „Herzkammer Spaniens“. Das ist schön gesagt, weckt zugleich aber Nachfragen. Wie auch die im Pflaster vor der Kathedrale eingelassene Bronzeplatte, die den Beginn des Camino Primitivo anzeigt, des ursprünglichen Pilgerwegs zum Grab des heiligen Jakobus in Compostela. Wie hängt all das zusammen?
Mit dem Untergang des Weströmischen Reichs begründete König Eurich 476 die westgotische Herrschaft auf der Iberischen Halbinsel. Sie war zunächst aber nur von kurzer Dauer. Nach der Landung des Feldherrn Tarik bei Gibraltar im Jahr 711 eroberten die Araber Iberien und vertrieben die Westgoten aus Toledo. Es wird oft übersehen, dass sie auf ihren Razzien bis zu den Pyrenäen die hochstehende westgotische Kultur zerstörten. 722 stellte sich der westgotische Feldherr Pelayo bei Covadonga den Mauren entgegen, besiegte sie und legte die Grundlage für das spätere Königreich Asturien mit der Residenz in Oviedo. De facto begann damit die Reconquista, die Rückgewinnung der Iberischen Halbinsel. Als 812 das Jakobus-Grab in Compostela aufgefunden wurde und König Alfons II. selbst zu Fuß von Oviedo nach Santiago aufbrach, war dies der Beginn für den Pilgerweg: von der Erlöserkathedrale (San Salvador) in Oviedo nach Santiago de Compostela. Ein altes französisches Pilgerlied formuliert es so: „Der nach Santiago geht und nicht den Erlöser besucht, besucht den Diener und nicht den Herrn.“
In der Kathedrale fällt rechter Hand eine überlebensgroße Christus-Statue auf. Pilger suchen sie auch heute noch zuerst auf, um davor niederzuknien. Anschließend geht es über eine Treppe vom Seitenschiff hinunter in eine kleine Seitenkapelle mit der Schatzkammer. Das also ist die Camera Santa, die „Herzkammer Spaniens“. Auf beiden Seiten wird sie flankiert von sechs herausragenden Apostelpaaren aus der Zeit um 1165.
In der Apsis kommt die Pilgersehnsucht vorerst an ihr Ziel. Der Altarschrein aus getriebenem Silber, die Arca Santa König Alfons’ VI., birgt Reliquien aus dem Heiligen Land, die einst die Westgoten vor den Mauren aus Toledo retteten und in Oviedo in Sicherheit brachten. Zusammen mit den grandiosen Insignien spanischer Geschichte – das Siegeskreuz von König Pelayo und das Engelskreuz von König Alfonso II. – übten eine geradezu magische Wirkung auf die Pilger vergangener Jahrhunderte aus und befeuerten die Idee, die verlorene Souveränität über die Iberische Halbinsel zurückzugewinnen. Es ist eine böse Ironie der Geschichte, dass dieser „Heilige Raum“, ein Kraftzentrum spanischer Identität, mit das Erste war, was der Wut der streikenden asturischen Bergarbeiter 1934 zum Opfer fiel. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Kammer glücklicherweise Stein um Stein wiederaufgebaut.
Wer sich Zeit nimmt, um den Westgoten „auf die Spur“ zu kommen, der sollte einige der präromanischen Gotteshäuser aufsuchen. Seit dem achten Jahrhundert – der eigentlichen Romanik um zweihundert Jahre voraus – sind sie rund um Oviedo entstanden und haben sich in außergewöhnlicher Perfektion erhalten. Die Auszeichnung „Weltkulturerbe“ bringt dies nur unvollständig zur Sprache. Tatsächlich wollten sich die Westgoten nach dem Verlust ihres Reiches und der Zerstörung ihres staatlich-kulturellen Zentrums Toledo durch die Mauren in Oviedo gewissermaßen neu erfinden. Dazu haben die Könige ihre Sedes Regiae, ihren neuen Herrschersitz, gebührend ausgestattet. Was die Bauherren der Kirchen nicht davon abhielt, auf römische, byzantinische und gelegentlich auch, ganz pragmatisch, auf arabische Stilelemente zurückzugreifen.
Dafür ist San Julián de los Prados, nur knapp einen Kilometer vor den Toren Oviedos gelegen, ein gutes Beispiel. Sie ist eine der schönsten präromanischen Kirchen Spaniens. Schon allein wie sie im dreischiffigen Basilikastil auf einer kleinen Anhöhe thront, perfekt proportioniert, setzt sie ein ästhetisches Statement. Das Kircheninnere weist eine atemberaubende Ausmalung auf, etwa mit Vasenmotiven und Blättergirlanden. Die Wurzeln dieser Ikonografie reichen zurück in die klassische Tradition von Herculaneum und Pompeji. Ursprünglich waren alle Wände al fresco bemalt, das heißt auf den frischen Putz. Es erscheinen Gebäude, die Bethlehem und Jerusalem symbolisieren. Die oberste Zone schließlich stellt Paläste dar. Personenabbildungen finden sich nicht, das einzige christliche Symbol sind vier Kreuzesdarstellungen, die sich auf Gottvater und den Gottessohn beziehen. Dieses einzigartige Bildprogramm in einem unverwechselbaren Kirchbau repräsentierte in ständig kriegerischen Zeiten die Anwesenheit des himmlischen Jerusalem.Entfernt erinnert der Hausberg Oviedos, der Monte Naranco, an den Corcovado in Rio de Janeiro. So sind beide durch eine große Christusstatue gekrönt, die mit weit ausgebreiteten Armen die Welt segnet. Und auch hier besticht die Lage mit einem faszinierenden Panoramablick. Am Hang des Naranco warten aber noch zwei sehenswerte königliche Bauten auf Besucher.
Entfernt erinnert der Hausberg Oviedos, der Monte Naranco, an den Corcovado in Rio de Janeiro. So sind beide durch eine große Christusstatue gekrönt, die mit weit ausgebreiteten Armen die Welt segnet. Und auch hier besticht die Lage mit einem faszinierenden Panoramablick. Am Hang des Naranco warten aber noch zwei sehenswerte königliche Bauten auf Besucher.
Ramiro I. ließ im 9. Jahrhundert die von weitem wie eine sakrale Puppenstube anmutende Kirche San Miguel de Lillo errichten. Ursprünglich war die Anlage größer, heute ist nur noch der
westliche Teil erhalten, was sie buchstäblich
wie ein Kleinod erscheinen lässt. Mit diesem Bau wurden innovative architektonische Lösungen in die asturische Präromanik eingeführt, so erstmals drei Kirchenschiffe, eine königliche Empore oder drei Kapellen im östlichen Baukörper.
Etwas hangabwärts thront mit wahrhaft königlicher Aussicht Santa María del Naranco, die ehemalige Aula Regia (Königshalle) Ramiros’ I. Sie ist auf einem Sockel von Bädern errichtet und verfügt an beiden Enden über offene Loggien, die durch schlanke Säulen getragen werden. Überhaupt die Steinmetzkunst: Im Innern bestechen Säulen mit einem grätenartigen Halbrundmuster und winzigen Medaillon-Figürchen, die eine ganz eigene Atmosphäre ausstrahlen.
Vielleicht ist es ja der Hanglage über dem weiten Tal Oviedos geschuldet, dass Santa María del Naranco auf den ersten Blick monumental erscheint. Doch das ist dieser präromanische Bau ganz und gar nicht. Er strahlt eine konzentrierte Präsenz aus, die sich bestens in die umgebende Natur einfügt. Diese Aula Regia hatte ursprünglich keinerlei Verteidigungszweck, sie diente allein dem Königshaus als Sommerresidenz. Dem bereits zitierten Asturien-Kenner Helmut Domke mutet deshalb Santa María del Naranco an wie der „hellenische Augenblick Asturiens“. Genau das: ein arkadischer Zufluchtsort in Zeiten, in denen ein mörderischer Kampf um die Iberische Halbinsel tobte.
Unterwegs in den Vorbergen der Picos de Europa. Die spitzen Kalkgipfel des Gebirges an der Kantabrischen Küste wirken im rosafarbenen Licht des Nachmittags märchenhaft schön. Über enge und stark befahrene Serpentinen geht es in der Festwoche nach Covadonga. Jedes Jahr am 8. September feiert Asturien das Fest der Jungfrau von Covadonga und damit den Nationalfeiertag Asturiens, den Día de Asturias.
Inmitten einer senkrechten Felswand öffnet sich die berühmte Grotte von Covadonga. Etwas seitlich davon bricht der Fluss Deva aus der Felswand und stürzt tief in ein Becken. Eine lange Menschenschlange staut sich an der schmalen Treppe, die hinauf zur Grotte führt. Nur wenige Pilger oder Touristen haben gleichzeitig Platz für ein Gebet oder auch nur einen neugierigen Blick auf die kleine Statue der Virgen de las Batallas, der Jungfrau der Schlachten. Im Hintergrund der Grotte liegen Sarkophage, in einem davon ruht der Mann, dem Covadonga seinen Ruhm verdankt: König Pelayo, der von hier aus mit einer Allianz aus Gefolgsleuten und Bergbewohnern den arabischen Verfolgern eine Niederlage beibrachte und damit die Reconquista einleitete. Der Überlieferung nach stand ihm die Gottesmutter zur Seite.
Pelayo soll ein Kreuz aus Eichenholz empfangen haben, das Cruz de la Victoria. Mit Silber beschlagen, kennen wir es aus der Kathedrale von Oviedo. Unterpfand des Sieges, vielleicht aber auch Mahnung: Die Westgoten deuteten die Eroberung durch die Mauren heilsgeschichtlich als göttliches Strafgericht für ihre Sünden. Mit dem Kreuz, der Muttergottes und später noch dem heiligen Jakobus (Santiago) an der Seite wollten sie das Blatt wenden.
Die vorislamische Zeit der westgotischen Kultur und Staatlichkeit, die „gotische Ordnung“, des 6. und 7. Jahrhunderts sollte wiedererstehen. Dazu gehörte das Christentum eines Isidor von Sevilla, geschätzt selbst von muslimischen Gelehrten, und die alte Lebensweise in Toledo mit ausgeprägt konziliaren Praktiken und großer Integrationskraft für unterschiedliche Traditionen, wie der Historiker Klaus Herbers betont. Tatsächlich gelang mit dem Sieg 722 eine Wende: Die Araber zogen sich zurück. In der Chronik von Sebastian von Salamanca ist später zu lesen, dass Covadonga nur mit dem Wunder im Roten Meer zu vergleichen sei. Der zündende Funke zur Ausprägung von Souveränität und Identität auf der Iberischen Halbinsel war entfacht.
Der Geruch des Meeres: Vielleicht ist das der Grund, warum irgendwann während eines Aufenthaltes in Oviedo der Drang zum Meer Überhand gewinnt. Bei strahlendem Sonnenschein ist die nördlichste Spitze Asturiens, das Cabo de Peñas, unser Ziel. Auf dem Weg dahin machen wir Halt an einem der schönsten Küstenabschnitte, in Moniello. Wir steuern eine ausgedehnte Wiese an, die oberhalb der Küstenlinie ein fantastisches Panorama bietet: Im Blick eine kleine Bucht mit feinem Strand und Bootsanleger sowie in der Ferne die felsig-schroffe Steilküste der Punta de la Vaca. Ansonsten freier Blick auf den Atlantik. Oben auf der grünen Wiese unter Schatten spendenden Kiefern lässt es sich aushalten. Wer diesen friedlichen Ort am Ende verlässt, geht vielleicht schweren Herzens und mit dem Gedanken: „Wann wird es eine Wiederkehr geben?“ „Wenn meine Stimme an Land stirbt,/bringt sie hinunter ans Meer/und lasst sie mir am Strande“, bat der Dichter Rafael Alberti (1902–1999), einst von Franco ins Exil vertrieben. Moniello, das wäre so ein Ort für Alberti.
Es geht weiter in nördlicher Richtung entlang der Küstenstraße. Nach nur wenigen Kilometern ist das sehenswerte Örtchen Luanco mit seinen bunten Fischerhäuschen erreicht. Ein Schmuckstück ist die Kirche Santa María aus dem 18. Jahrhundert. Sie liegt fast direkt an der Küste, wie ein zum Auslaufen bereites Schiff. Um die Kirche herum führt ein überdachter Gang mit toskanischen Säulen: So endet hier selbst der sonntägliche Kirchgang mit Flanieren wie auf einer Promenade. Herausragend an der Kirche ist aber das feine barocke Innere der einschiffigen Kirche im Kontrast zu dem groben Äußeren aus Bruchsteinmauerwerk und Sandsteinquadern mit roten Tonziegeln. Reich verzierte Altaraufsätze, darunter der Hauptaltar mit einer Christusdarstellung, machen das Kircheninnere zu einer Sehenswürdigkeit. Um die Christusfigur rankt sich eine fromme Geschichte: Trotz Sturm zogen die Bürger einmal in einer Prozession mit der Christusfigur durch den Ort, um ihren Fischern auf hoher See eine sichere Heimkehr zu erflehen. Und tatsächlich, alle 300 Fischer kehrten sanos y salvos, gesund und wohlbehalten, nach Luanco zurück.
Am letzten Tag in Asturien ist ein Tal in der Gemeinde Villaviciosa unser Ziel, rund vierzig Kilometer östlich gelegen von Oviedo. Mitten im satten Grün einer englischen Parkanlage liegt die im 9. Jahrhundert erbaute präromanische Kirche San Salvador de Valdediós. König Alfons III. verbrachte dort seinen Lebensabend. Um 1200 kam noch ein Kloster hinzu. Vor allem aber die Erlöserkirche, eigentlich als Palastkapelle errichtet, ist ein perfekt proportionierter Bau, der die ganze Meisterschaft seiner Baumeister widerspiegelt. In gut westgotischer Tradition verbinden sich darin römisch, byzantinisch und arabisch inspirierte Bau- und Gestaltungelemente. Das zeigt sich an den Rundbogenportalen sowie den Zwillings- und Drillingsfenstern, die mit Hufeisenbögen und einem quadratisch umlaufenden Rahmen (Alfizrahmen) verziert sind. Ein aufwendiger, auch optisch schöner römischer Estrich, Fresken von erlesener byzantinischer Kunstfertigkeit, all das schmeichelt der kleinen Kirche.
An der Klosteranlage gegenüber wurde eigentlich seit Gründung immer wieder gebaut. Zuletzt im 16. Jahrhundert, als nach einer Überschwemmung der mittelalterliche Kreuzgang durch eine herrschaftliche zweistöckige Renaissanceanlage ersetzt wurde, zu der später sogar noch ein drittes Stockwerk hinzukam. Mitte des 19. Jahrhunderts verließen die letzten Mönche das Kloster unter dem Druck einer kirchenfeindlichen Regierung. Später dienten die Bauten der Erzdiözese Oviedo als Seminar und Kolleg. Doch damit ist die Geschichte dieses Ortes noch nicht annähernd vollständig erzählt:
Im Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939) lebten in dem Kloster Patienten und Klinikpersonal des psychiatrischen Krankenhauses La Cadellada in Oviedo. Die Stadt hatte sich früh mit dem Aufstand der asturischen Bergarbeiter (1934) solidarisiert und war im Bürgerkrieg in die Schusslinie zwischen republikanischen Verteidigern und nationalistischen Putschisten um General Franco geraten.
Nach dem Sieg der Nationalisten über die Republikaner in Asturien tauchten am 22. Oktober 1937 Einheiten des vierten Gebirgsjägerbataillons Arapiles in Valdediós auf. Zu Beginn fühlte sich das Personal durch Francos Soldaten noch nicht bedroht, obwohl es auch verletzte republikanische Soldaten versorgte. Doch am 26. Oktober nahm das Unheil seinen Lauf. Die Soldaten befahlen dem Klinikpersonal, eine Fiesta zu organisieren mit Speisen und vor allem reichlich Alkohol, bei der auch getanzt werden sollte – mit Anwesenheitspflicht für die Krankenschwestern. Die Fiesta endete in einer Massenvergewaltigung, bei der niemand für die Frauen eintrat, Berichten zufolge auch nicht ein wegen der Schreie hinzueilender Militärkaplan. Nach dem Exzess zwangen die Soldaten die Frauen und die Männer, rund zweihundert Meter hinter dem Kloster eine Grube auszuheben und sich hineinzulegen. Danach wurden sie mit Kopfschüssen ermordet.
Nach Jahrzehnten des Schweigens begannen 2003 auf Initiative der Vereinigung für die Wiedergewinnung der historischen Erinnerung (ARMH) archäologische und forensische Untersuchungen: Gefunden wurden damals 19 Skelette, acht männliche und elf weibliche im Alter von 19 bis 40 Jahren. Nichts erinnert in Valdediós daran, wie aus dem „Tal Gottes“ ein blutgetränktes Tal der Tränen wurde. Keine Erinnerungstafel, kein Stolperstein für die Opfer bestialischer Grausamkeit.
Der Bürgerkrieg, die Jahre danach mit Francos „Säuberungen“, anhaltende politische Verfolgung und Mord – Nordspanien ist übersät mit potentiellen Gedenkorten. Stillstand, ohne Luft zum Atmen. Jahrzehnte des Schweigens, die noch nicht überall vorbei sind: Dem absolutistischen Madrider Machtapparat zur Zeit Francos hielt der katalanische Lyriker Salvador Espiru (1913–1985) mit dem Gedichtband „Die Stierhaut“ (1958) das Gegenprogramm entgegen. „Sepharad“, so nennt er dichterisch sein Spanien nach der alten Bezeichnung für seine jüdische Bevölkerung, den Sephardim. Und es ist ein Spanien ohne kastilisch-zentralistischen Mythos, vielmehr von den Rändern aus gesehen. Spanien, das ist kein Land, sondern ein Kontinent der Regionen, wie seit den westgotischen Tagen in seiner Geschichte. Aktuell wie eh und je, nicht nur in Spanien, aber bleiben Espirus Mahnungen:
„Manchmal mag es notwendig und zwangsläufig sein,/dass ein Mann sterbe für ein Volk;/doch nie soll ein ganzes Volk sterben/für einen einzigen Mann:/Denk stets daran, Sepharad./Lass die Brücken des Zwiegesprächs fest verbleiben,/bemühe dich zu würdigen und zu verstehn/deiner Söhne Denkweisen und ihr vielfältiges Wort./Dass der Regen Tropfen um Tropfen falle auf die Saat/und die Luft darüber flute wie eine flache Hand/sanft und sehr wohltuend über das weite Feld./Dass Sepharad fortlebe ohne Unterlass/in der Ordnung und im Frieden, in der Arbeit, in der verdienten Freiheit.“