Bis in die letzten Dekaden hinein waren die typischen Bibelausleger in überwältigendem Maße akademisch gebildete Männer, häufig formell zölibatär, Aufsteiger in eine höhere Gesellschaftsklasse und darauf trainiert, eine organisierte Form von Christentum zu vermitteln und aufrechtzuerhalten, wovon ihre Jobs abhingen. Oftmals pflegten sie eher einen Lebensstil der Oberklasse und bewegten sich irgendwo zwischen dem Adel und der bäuerlichen Bevölkerung... Aber weil wir die jüdischen Propheten nicht gelesen haben, abgesehen von ihrer „Vorhersage“ des Kommens Jesu, haben wir gar nicht gemerkt, dass die Dauerobjekte ihres heiligen Zorns und ihrer Urteile zwei Spezialgruppen sind – die Fürsten und die Priester.
Standesdünkel, Patriarchat, Klerikalismus und jeder Versuch, ein privilegiertes Publikum zu bedienen, wird in der Bibel in der Regel als hochgradig gefährlich erachtet. Die meisten der Propheten scheinen nach unserem Verständnis des Begriffs „Laien“ gewesen zu sein und keine ausgebildeten Experten.
Richard Rohr in: „Was die Bibel uns zu sagen hat“ (Claudius, München 2020)