Wer bei den Demonstrationen und Kundgebungen von Corona-Skeptikern in den letzten Wochen genau hinhörte, merkte schnell, wie sich zwischen die brandaktuellen Verschwörungstheorien auch ältere mischten. Neben Plakaten, die den Milliardär Bill Gates für die Verbreitung des Virus verantwortlich machten, tauchten solche auf, die vor einer „Umvolkung“ warnten, einem angeblich groß angelegten Plan, Europa mit afrikanischen oder arabischen Migranten zu „unterwandern“. Wo eben noch gegen das Robert-Koch-Institut gewettert wurde, redet man plötzlich von einer Weltregierung, die die Einschränkungen nutzen wolle, um den souveränen Staat zu übernehmen. Teilweise schien es, als hätte das Virus nicht nur reale Grenzübergänge geschlossen, sondern auch die Grenzen in den Köpfen neu gezogen. Es hieß wieder „Wir“ gegen „Die“ – und populistische, nationalistische Bewegungen hatten genau die einfachen Antworten, auf die so viele gewartet hatten.
Politisches Überdruckventil
Dabei sollte es niemanden wundern, dass sich nationalistische Strömungen verstärkt zu Wort melden. Der Traum eines Europa ohne Grenzen, einer globalen Generation, die in jedem Land zuhause ist, beflügelt längst nicht mehr das Abendland. Und auch nicht mehr die Mehrheit der jungen Generation. Spätestens seit der Europawahl 2014, bei der nahezu jeder fünfte Sitz an europakritische, national orientierte Parteien ging, „wird das ‚Monster‘ des Nationalismus überall in Europa deutlicher wahrgenommen“, schreibt Wilhelm Hofmeister, Büroleiter der Konrad-Adenauer-Stiftung, im Magazin „Auslandsinformationen“. Der französische Front National, die FPÖ in Österreich, die italienische Lega, die polnische PiS und die AfD in Deutschland – zahlreiche Parteien, die im Wahlkampf gegen die europäische Idee Stimmung gemacht hatten, fanden sich plötzlich in beträchtlicher Stärke im Parlament. Und das bereits ein Jahr vor der Flüchtlingsbewegung, „die in den letzten Jahren häufig als Auslöser für das Erstarken der nationalistischen Parteien dargestellt wird“. Der Impuls, zuallererst an den Vorteil der eigenen Nation zu denken und Bündnisse zu relativieren, sobald sie dem eigenen Land keinen unmittelbar sichtbaren Nutzen mehr bringen, war schon länger in den Köpfen verankert.
Vielen Experten bereitet das Sorgen. „Nationalismus ist die Ursache der meisten politischen Konflikte seit dem 19. Jahrhundert“, schreibt der Historiker Rolf Ulrich Kunze in seinem Buch „Nationalismus. Illusionen und Realitäten“. Diese Ideologie gefährdet nicht nur die Stabilität staatenübergreifender demokratischer Systeme und entlädt sich regelmäßig in rassistischen Ausfällen gegen jeden, der nicht zur „Nation“ gezählt wird. Langfristig „legitimiert sie tiefe Eingriffe in die Menschen- und Bürgerrechte“. Menschen, die nationalistischen Bewegungen nachlaufen, weil sie – zum Beispiel – meinen, Maskenpflicht und Abstandsgebote im Namen ihrer „Freiheit“ verweigern zu müssen, könnten unbewusst einem deutlich unfreieren Staat den Boden bereiten.
Doch auch wer mit den oft kruden Schreckensszenarien der Verschwörungsprotestler nichts anfangen kann, tut gut daran, sie ernstzunehmen. Laut dem Informatiker und Übersetzer Alexander Brentler, Autor des Newsletters „Internationale Politik und Gesellschaft“, verhärten sich die Fronten nur, wenn man auf nationalistische Verschwörungstheorien mit intellektueller Überheblichkeit reagiert. Man müsse sich „hüten, Menschen dafür zu verurteilen, ‚das Falsche‘ zu glauben, und sie für ihre Verstöße gegen den ordnungsgemäßen öffentlichen Vernunftgebrauch an den Pranger zu stellen“. Denn die Deutungshoheit darüber, was gerade geglaubt werden muss, ist oft genug auch eine Klassenfrage: „Akademisch gebildete Schichten mit sicherem Einkommen erheben einen Hoheitsanspruch auf die Wahrheit und sind schockiert, wenn das bei anderen sozialen Gruppen auf wenig Begeisterung stößt.“ Verschwörungstheorien werden dabei zum „politischen Überdruckventil“. „Durch sie entladen sich die Konflikte einer zunehmend auseinanderdriftenden Gesellschaft, in der politisches Klassenbewusstsein wenig ausgeprägt ist und Klassenkämpfe ein Tabuthema sind.“
Natürlich greift die Gleichung „Europa-skeptiker gleich Unterschicht“ zu kurz. Oft genug sind es Leute auch aus einer durchaus gebildeten Mittelschicht, die sich „abgehängt“ fühlen oder die bestimmte soziale oder kulturelle Entwicklungen, die sich anbahnen, nicht wollen.
Kommerz statt Masterplan
Der Münchner Soziologe Armin Nassehi nennt die Richtung, die die Corona-Demonstrationen eingeschlagen haben, im „Spiegel“ einen „Seismograf, der ein Unbehagen anzeigt“. Dabei werden immer wieder sehr reale Probleme angesprochen und die richtigen Fragen gestellt – die Antworten fallen aber schnell in alte, überkommen geglaubte Muster: „Verschwörungstheorien bieten die Möglichkeit, in einer unübersichtlichen Situation klare Sätze zu sagen – dafür taugen dann auch altbekannte Verschwörungstheorien, oft mit antisemitischen Konnotationen. Es braucht nicht einmal neue.“ Trotz solcher wiederholter Entgleisungen haben die Proteste für Nassehi bereits spürbaren Einfluss auf die Politik. Jede Demonstration zwinge die Regierung, sich zu ihr zu verhalten.
Dabei ist das Gefühl, sich durch die Globalisierung mehr und mehr in Sachzwänge zu verstricken, immer eindeutiger in bestimmte Richtungen geschoben zu werden, nicht unbedingt falsch. Unser Leben wird zwar „nicht von dunklen Mächten bestimmt – wohl aber von Algorithmen und komplexen Finanzinstrumenten, die in der Praxis genauso undurchsichtig sind und sich der demokratischen Kontrolle ebenso effektiv entziehen“, heißt es bei Brentler. „Tatsächlich werden wir andauernd manipuliert – nur eben nicht auf Basis eines koordinierten Masterplans, wie es Verschwörungstheorien behaupten, sondern aus ganz banalen kommerziellen Motiven.“ Das Problem sind global entfesselte Märkte, Konzerne, die im einen Land arbeiten, in einem anderen Steuern zahlen oder fast überhaupt nicht und die sich an die Gesetze von keinem halten. Nur – das Rad der Globalisierung wird sich nicht mehr zurückdrehen lassen. Statt sich nationalistisch einigeln zu wollen, braucht es Lösungen, gerechte Regeln und globale Sanktionen, wenn sie missachtet werden. Das aber lässt sich nur zusammen erarbeiten.
Es geht ums Gehörtwerden
Auch Hofmeister sieht die Gefahr, dass sich liberalistisch gestimmte „Eliten“ aus Politik und Wirtschaft in verschiedenen Fragen zu weit von den Problemen und Sorgen der Durchschnittsbürger entfernen. Nicht aus böser Absicht, sondern einfach weil sie die Wirklichkeit ganz anders erleben. Wem Globalisierung neue Märkte, neue Möglichkeiten und billigere Arbeitskräfte bedeutet, der denkt zwangsläufig anders darüber als jemand, der sich vor allem mit den Unsicherheiten einer globalen Welt konfrontiert sieht und am Ende der gesellschaftlichen Beteiligungshierarchie um seinen Platz kämpfen muss. Das Gefühl, dass die „Eliten“ sich den Nöten der „kleinen Leute“ verschließen, ist Gift für die Demokratie, die immer aus dem Dialog lebt – und stachelt populistische Bewegungen weiter an. Wer erlebt, dass man ihm im normalen gesellschaftlichen Diskurs nicht zuhört, steht vielleicht bald mit einem Megafon auf der Straße. Dass die Parteien der Mitte mehr daransetzen müssen, auf die Bedürfnisse, Sorgen und Zukunftsvorstellungen eines skeptischen Bürgertums, das Fehlentwicklungen durchaus sensibel wahrnimmt, einzugehen, ist zwar eine Plattitüde, zeigt aber einen faktischen Mangel. Genauso wichtig ist es aber, realistisch klarzumachen, wo die Grenzen der nationalen Politik liegen, „dass der Nationalstaat im Zeitalter der Globalisierung zumindest insofern seine Rolle eingebüßt hat, als er viele Prozesse nicht mehr steuern und viele Probleme nicht mehr lösen kann“, wie Hofmeister schreibt. Jedenfalls nicht im Alleingang.
Wer die negativen Auswirkungen offener Grenzen und eines freien globalen Marktes verstehen will, steht vor einer weltpolitischen Mammutaufgabe. Erst muss man versuchen, das unübersichtliche Netzwerk von Lobbyverbänden und Beratungsfirmen zu entwirren, bevor an konkrete juristische Schritte zu denken ist. Da klingt es für manche verführerisch, wenn nationalistische Bewegungen „greifbare Feindbilder“ liefern, und damit bequemerweise gleichzeitig klarmachen, dass die eigene Gruppe nicht Teil des Problems ist. Statt sich Gedanken über komplexe Handelsbeziehungen und Steuerschlupflöcher zu machen – und am Ende vielleicht sogar über die eigene Rolle als Verbraucher im internationalen Handelskomplex nachzudenken –, kann man auf Demonstrationen sehr konkret einzelne Politiker oder Wirtschaftsbosse als das personifizierte Böse brandmarken. Und schließlich ganz allgemein über „die anderen“ herziehen, die natürlich immer die Bösen sind.
Die zweite Welle
„Jeder Nationalismus basiert auf einer Fiktion“, schreibt Hofmeister. „Und diese Fiktion ist die Nation.“ Denn Populisten meinen nie den modernen Territorialstaat mit klaren Grenzen und Einwohnerzahlen, wenn sie von „Nation“ sprechen. Stattdessen versuchen sie immer wieder identitäre Vorstellungen in den Begriff zu schmuggeln. „Dabei fällt es erkennbar schwer, die vermeintlichen Gemeinsamkeiten ihrer Nation zu benennen, die sie von anderen Nationen unterscheiden.“ Dagegen wissen die Beteiligten immer sehr genau, wer nicht zu ihrer Nation zählt – egal was die offizielle Staatsangehörigkeit sagt. Wer wegen Hautfarbe, Religion oder Kultur aus dem Raster fällt, findet sich im einfachen „Wir gegen Die“-Lagerdenken schnell der Gruppe der Feinde zugeordnet. Für alle anderen wird „ein gemeinsames Schicksal oder eine gemeinsame Bestimmung konstruiert“, die Menschen zusammenschweißen soll, die sonst nicht viel gemeinsam haben.
Das neue Corona-Virus entpuppt sich damit tatsächlich als Vorteil für Nationalisten. Denn unter seinen Folgen leiden viele sehr viel direkter als unter dem unsichtbaren Gespenst der Globalisierung. Und oft trifft es die Schwächsten der Gesellschaft am härtesten. So können wir uns darauf einstellen, dass die wieder ansteigenden Ansteckungsraten Wasser auf die Mühlen populistischer Bewegungen sein werden – und dass eine zweite Welle der Einschränkungen auch eine neue Welle des Nationalismus bedeuten könnte. Zumal sich nicht von der Hand weisen lässt, dass in der akuten Krisenlage viele wichtige Impulse von der nationalstaatlichen Ebene ausgingen.
Gerade deshalb ist es jetzt Zeit, den einfachen Wahrheiten eine eigene Vision entgegenzusetzen: die Vision eines vielleicht doch stärker geeinten Europa, das in der Krise zeigt, wie schnell und solidarisch es reagieren kann. Die Vision einer Weltgemeinschaft, die zusammenarbeitet, um ein gemeinsames Problem zu lösen – und sich in schweren Zeiten auch um jene kümmert, die Angst haben zurückzubleiben. Eine Vision, die im Gegensatz zum Mythos des völkisch in sich geschlossenen Staates eine Chance hat, Wirklichkeit zu werden.