Vierzig Jahre SolidarnoscSchwer gezeichnet, doch lebendig

Vierzig Jahre nach der Gründung der Solidarność in Polen.

Heiß ist es in Danzig an diesem Samstag im August. Die Menschen kommen in großen Gruppen ins imposante, mehrstöckige Europäische Zentrum der Solidarität (ECS), das 2014 auf dem Gebiet der einstigen Lenin-Werft eröffnet wurde. Seither können Interessierte hier, am Rand der großflächigen Hafenanlagen, der Solidarność nachspüren: der Gewerkschaft, die 1980 entstand, und der nach ihr benannten Bewegung, die die Geschichte Polens maßgeblich mitprägte und nach wie vor prägt. Ihr Geist, oder zumindest derjenige ihrer Anfangsphase, könnte wie ein potenzielles Gegengift für den politischen Zeitgeist der Gegenwart wirken – nicht nur in Polen, sondern aktuell etwa auch in Weißrussland (Belarus), Polens direktem Nachbarn.

Das damals entzündete revolutionäre Feuer war getragen von einer Stimmung des Aufbruchs, des Mutes, der Würde. Es kristallisierte sich in 21 Postulaten, in denen die Streikenden weitgehende Rechte einforderten. Diese Forderungen wurden am 17. August 1980 verfasst. Nach hartnäckigen, solidarischen Streiks, die sich innerhalb von zwei Wochen über das ganze Land erstreckten, sowie Verhandlungen mit der kommunistischen Staatsführung, beugte sich diese am 31. August.

Was blieb davon heute übrig? „Ich denke, dass in den heutigen Zeiten die wirkliche Solidarität zwischen den Menschen verblasst. Vielleicht lässt sich dies wieder erneuern, aber bis auf Weiteres gibt es nicht so eine Solidarität und Einheit wie damals in den Betrieben“, sagt eine 44-jährige Frau, die sich gerade mit ihrem fünfzehnjährigen Sohn die Ausstellung im ECS angeschaut hat. Sie lebt in der zentralpolnischen Großtadt Lodz, die bis zur Wendezeit 1989 wichtiges Zentrum der Textilindustrie war und danach massive wirtschaftliche Probleme hatte. „Die Leute sind heute hinter dem Geld her, und denken nicht daran, sich zu solidarisieren. Es gibt große Gräben zwischen den Menschen, vor allem politische, aber auch ökonomische.“

Ein „Karneval der Freiheit“

Solche Worte sind keineswegs eine Einzelmeinung – sie verdeutlichen die Diskrepanz zwischen den Ereignissen des August 1980 und ihrer Wahrnehmung durch Millionen von Landsleuten auf der einen und der Realität des Jahres 2020 auf der anderen Seite. Was damals geschah, inmitten der Systemkonkurrenz zwischen West und Ost, inmitten der Realität des Eisernen Vorhangs, war unerhört. Mit dem Danziger Abkommen legalisierte das Regime faktisch die politische Opposition – ein einmaliger Vorgang im kommunistischen Ostblock. Schon wenige Monate nach ihrer Registrierung als unabhängige und selbstverwaltete Gewerkschaft hatte die Solidarność zehn Millionen Mitglieder. Es folgten sechzehn Monate, die in Polen weithin als „Karneval der Freiheit“ erinnert werden. Denn neben der Legalisierung unabhängiger Gewerkschaften und des Streikrechts erstritten die Protestierenden die Durchsetzung der von der Verfassung gewährten Rede- und Pressefreiheit und die Freilassung von politischen Gefangenen. Es ging um Fundamentales und Unvergängliches. In einem Lied aus jener Zeit heißt es, es seien „Tage voller Hoffnung“ gewesen, „voller heißer Gespräche und Auseinandersetzungen“, voller „Menschen, die gefühlt haben, dass sie endlich bei sich sind“.

Es steht außer Frage: Die Solidarność des Jahres 1980 war nicht nur eine politische und nicht nur eine gewerkschaftliche Bewegung, sondern auch eine geistige, deren Dynamik sich nicht gänzlich aus der bloßen Addition realer Faktoren erklären lässt: der großen wirtschaftlichen Krise, in der das Land damals steckte; der zum damaligen Zeitpunkt immer stärker wirkenden Untergrund-Opposition; der Kooperation zwischen Arbeiter-Führern und der „Inteligencja“, engagierten Intellektuellen und Vertretern der oppositionellen Eliten; der Wahl Karol Wojtyłas zum Papst 1978, der ein Jahr später bei seinem Heimatbesuch die „Veränderung des Antlitzes dieser Erde“ herbeigerufen hatte.

Ein Mercedes – oder 21 Punkte?

Karol Modzelewski, einer der wichtigsten Oppositionellen der Zeit bis 1989 und Ideengeber für den Namen „Solidarność“, war ein politischer Realist. Doch auch er war ins Schwärmen gekommen, wenn er über die damalige Bewegung redete und schrieb. Das erste und wichtigste Postulat, die Gründung der „von Partei und Staat unabhängigen Gewerkschaften“, sei „wie eine Offenbarung der Freiheit gewesen, die das Volk auf die Barrikaden führte“, schrieb Modzelewski in seiner Autobiographie. Den religiös aufgeladenen Begriff „Offenbarung“ wählte Modzelewski, der insgesamt achteinhalb Jahre in kommunistischen Gefängnissen eingesessen hatte, nicht zufällig – die Solidarność zeichnete sich in der Tat durch eine geistige Dimension aus, die damals das Regime überwältigte. Im letzten Jahr ist Modzelewski gestorben.

Auch heute fällt es schwer, über die Solidarność der Jahre 1980/81 nicht in erhabenen Worten zu reden – zumal anlässlich runder Jahrestage, an denen Zeitzeugen, Macherinnen und Macher von damals in Zeitungen und Fernseh-Dokumentationen zu Wort kommen. Doch die alltägliche Wahrnehmung und Bewertung der Solidarność ist in Polen eine ganz andere. Viele Menschen drücken ihre Wut und Enttäuschung über das, was blieb, viel radikaler aus, als es die 44-Jährige aus Lodz tut. „Alles von der Ur-Solidarität ist in kleine Stücke zerbrochen“, sagt etwa ein 66-jähriger Rentner. Der Mann, der seinen Namen nicht nennen möchte, ist Anhänger der regierenden Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) und lebt in der küstennahen Kleinstadt Gryfice im Nordwesten des Landes. „Diejenigen, die einst in einer Reihe marschierten, gründeten zu viele Abzweigungen der Solidarność, machten zu viel Politik. Das Geld hat die Menschen auf falsche Pfade geführt, die Ideale sind längst über den Jordan gegangen. Und junge Leute lehnen heute alles ab, was mit Verantwortung zu tun hat, sie haben andere Ziele – ein Mercedes soll es sein, ein Eigenheim, am besten gleich im Alter von dreißig Jahren.“

Doch das trifft nicht die ganze Wirklichkeit. Viele junge Menschen engagieren sich. Sie lassen sich nicht von der Realität erschüttern, sondern protestieren. Nicht nur, aber auch in Danzig. Am 13. Januar 2019 wurde hier der Stadtpräsident Paweł Adamowicz auf offener Bühne ermordet. Es war die Tat eines psychisch labilen Mannes, der gleichwohl in einer aufgeheizten politischen Stimmung handelte. In einer bewegenden Trauerrede sagte der Dominikanerpater Ludwik Wiśniewski, ein über Parteigrenzen geachteter Geistlicher und einstiger Oppositioneller: „Heute erleben wir in Danzig einen neuen, historischen Moment: Ganz Polen – womöglich nicht nur Polen – wartet, dass von hier aus die Botschaft ausgeht, die bei jedem Polen ankommt und das moralische Gleichgewicht im Land und unseren Herzen wiederherstellt.“

Danziger Schülerinnen und Schüler nahmen sich diese Worte zu Herzen. Unterstützt von der ECS-Mitarbeiterin Dorota Brzezińska formulierten sie ihre eigenen „21 Postulate der Jungen für das 21. Jahrhundert“, Tausende Schüler veranstalteten einen Marsch durch die Stadt. Sie forderten von Politikern, „nicht länger gezielt die gesellschaftliche Spaltung zu vertiefen“, den „Stopp der Diskrimierung vor dem Hintergrund von Rasse und Ethnie“, oder auch, in Punkt 21: „Nichts über uns ohne uns – uns allen.“ Von Arbeitnehmerrechten schrieben sie wenig, dafür umso mehr von Integration und Gleichberechtigung.

Ein Heroismus des Geistes

Auch die heute zwanzigjährige Julia Borzeszkowska hat sich engagiert – und tut dies, ebenso wie viele ihrer Mitstreiter, weiterhin. Warum? „Weil wir während unseres Engagements gelernt haben, dass wir etwas tun können, wenn wir unzufrieden sind. Doch trotz der Analogien mit den 21 Postulaten von 1980 haben wir uns eher an der heutigen Realität orientiert.“ In dieser Realität sieht die junge Jurastudentin unter ihren Altersgenossen durchaus auch das, was der 66-jährige Rentner aus Gryfice beschrieb. „In der heutigen Zeit gibt es zu wenig alltägliche Solidarität, und wenn, ist sie selektiv. Viele von uns Jungen schauen nur auf das eigene Wohlergehen. Die Älteren, unsere Eltern, nehmen wir mitunter nicht ernst. Aber gerade aus ihren Erzählungen können wir erfahren, dass die Menschen damals näher aneinander waren.“

Trotz dieser ernüchternden Worte ist womöglich mehr von der Solidarność geblieben, als es oberflächlich den Anschein macht, als in den enttäuschten Aussagen vieler Menschen zu vernehmen ist. Wenn es eine „Ethik der Solidarność“ gab und gibt, von der der einflussreiche, im Jahr 2000 verstorbene katholische Geistliche und Philosoph Józef Tischner schrieb, dessen Gedanken gar Teil des offiziellen Programms der Solidarität wurden – was war und ist ihr Kern? Laut Tischner erwachse Solidarität aus der „kategorischen Notwendigkeit der Veränderung nicht nur des gesellschaftlichen Systems, sondern auch der gesamten Weise des Daseins des Menschen“, sie vollziehe sich also auch auf der persönlichen Ebene. Weniger der Heroismus, sondern der Protest, dessen Ziel nicht Eigeninteresse, sondern das Einstehen für Andere sei, entzünde auch die Mitmenschen, schrieb Tischner – so werde Heroismus geboren.

Wenn dies Solidarität ist, so flammt sie immer wieder auf: der Begriff, die Idee, das Motto „Es gibt keine Freiheit ohne Solidarität“, das sich im Polnischen fein reimt, wird in Polen auch heute immer wieder auf den Schild gehoben – zuletzt bei der Verteidigung von Minderheiten lesbischer, homosexueller, transsexueller oder transgender Prägung (LGBT). Sie sind leider weiterhin Ziel von Hasskampagnen der PiS-Regierenden und auch etlicher katholischer Geistlicher. Soeben hat die katholische Bischofskonferenz in einem bei der Vollversammlung in Tschenstochau beschlossenen Dokument hingegen erklärt, es gebe eine Pflicht zum Respekt gegenüber Homo-, Bi- und Transsexuellen. „Jeder Akt physischer oder verbaler Gewalt, jedes hooliganartige Verhalten und jede Aggression gegen LGBT+-Menschen ist inakzeptabel.“ Allerdings lehnt die Bischofskonferenz die „Gender-Ideologie“ und die Einführung eines dritten Geschlechts ab, wie es im selben Text heißt.

Das „S“ nach dem Mythos

Heute sind die Konsequenzen für ein bürgerschaftlich-solidarisches Engagement freilich nicht mit jenen zu vergleichen, die sich während der ersten Solidarność offenbarten. Als diese nach der Ausrufung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 verboten wurde, landeten Tausende in Gefängnissen. Bei aufflammenden Protesten gab es in den kommenden Monaten und Jahren vierzig Tote. 1984 wurde der engagierte und landesweit bekannte Geistliche Jerzy Popiełuszko vom Staatssicherheitsdienst ermordet.

Das Kriegsrecht, die zeitweise Delegalisierung der Solidarność, habe Millionen von Menschen im Land das Rückgrat gebrochen – und dies sei bis in die Gegenwart spürbar, sagte Modzelewski. „Die große Solidarność der Jahre 1980 und 1981 war eine gemeinschaftliche, egalitäre und im Grunde sozialistische Bewegung. Zwei Jahre nach Ausrufung des Kriegsrechts galt für die Untergrund-Solidarność keine dieser Beschreibungen mehr.“ Nach dem politischen Umbruch Ende der Achtziger wurde die Gewerkschaft wieder anerkannt, doch habe zugleich eine gezielte Umdeutung stattgefunden: „Der Mythos der Solidarność wurde nach 1989 benutzt, um die Kräfte des gesellschaftlichen Widerstands angesichts der brutalen und radikalen neoliberalen Transformation in Polen zu betäuben“, sagte Modzelewski im Gespräch 2018. „Der Mythos wurde benutzt und verschlissen. Was bis heute übrig blieb, war das Misstrauen gegenüber jenen Eliten, die diesen großen Systemwandel vollzogen haben.“ Die Freiheit, sagte Modzelewski, hätten die Polen auch dank der Solidarność gewonnen, die Gleichheit indes sei auf der Strecke geblieben.

Heute versuchen die unterschiedlichen politischen Lager, das Erbe der „S“ jeweils für sich zu verbuchen. Es ist mehr als symbolisch, dass die Stadt Gdańsk, Bastion der liberalkonservativen Opposition, gemeinsam mit dem ECS und dem ehemaligen Solidarność-Anführer Lech Wałęsa eigene Gedenkveranstaltungen organisierte. Und die nationalkonservative PiS-Regierung – die Wałęsas Rolle bei der Bildung der Solidarność zum Teil durchaus zu Recht relativiert – ihre eigene. Die nach wie vor existierende Gewerkschaft Solidarność steht heute der PiS nahe, sie gilt in Arbeiterfragen als schwach.

Aus Schutt ein neues Fundament

So verwundert es kaum, dass das Erbe der Bewegung Solidarność die Menschen im Land spaltet. Zu stürmisch, zu vielschichtig ist ihre Geschichte, zu viele Protagonisten und auch vergessene weibliche Protagonistinnen, wie etwa die mutige Krankenschwester Alina Pienkowska, gab es, die im Laufe der Jahre unterschiedliche Visionen entwickelten. Dies alles gegen eine Staatsmacht, die alles daran setzte, die Solidarność von außen und innen zu zersetzen, und inmitten einer Realität, die allzu komplex war, als dass die Bewegung und ihre Ideen sich hätten schadlos halten können. „Diese schöne Geschichte wurde erdrückt durch ganze Halden lügnerischer Propaganda und brutaler Unterdrückung, durch Schuttberge des Verrats und menschlicher Schwächen, durch Schichten weiterer Enttäuschungen und nicht realisierter Hoffnungen“, schreibt der Zeithistoriker Łukasz Kamiński, ehemaliger Chef des Instituts für Nationales Gedenken (IPN). „Es könnte den Anschein haben, dass aus dem einst schönen Gebäude, des Symbols polnischer Hoffnungen, nur Ruinen übrig blieben. Doch wie der Solidarność-Liedermacher Jacek Kaczmarski schrieb: ‚Es ist dies kein Schutt. Sondern das Fundament‘.“

Konstruktiv fasst diesen Schutt der Solidarność der junge Publizist Ignacy Dudkiewicz vom links-katholischen Magazin „Kontakt“ zusammen. „Die Solidarität sollte ein Bezugspunkt für die Kritik an den autoritären Maßnahmen und Praktiken der gegenwärtigen Regierung sein. Gleichzeitig sollte sie auf einer tieferen Ebene eine Inspiration sein, auf unerfüllte Versprechen von Transformation, Kapitalismus, freiem Markt oder Globalisierung hinzuweisen und dagegen vorzugehen.“

Ein hoher, aber berechtigter Anspruch – und Aufgabe für die nächsten vier Jahrzehnte. Inzwischen nicht nur für Polen.

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