Bei der Entstehung des biblischen Monotheismus spielt Jerusalem eine bedeutende Rolle. Die Geschichte der Stadt reicht mindestens bis in die Mittlere Bronzezeit (ca. 1750 v. Chr.) zurück. Mit dem Einzug Davids in die Stadt der Jebusiter setzte im 10. Jahrhundert v. Chr. eine Entwicklung von weltgeschichtlicher Bedeutung ein. Es kam zur Verschmelzung zweier religiöser Traditionen: Der JHWH-Glaube ging mit der kanaanäischen Religion der Bewohner Jerusalems eine Verbindung ein. Aus dieser Symbiose entstand der biblische Monotheismus mit seinem universalen Geltungsanspruch.
Aufgrund der eingeschränkten Grabungsmöglichkeiten bleibt die Archäologie Jerusalems umstritten. In der jüngeren Forschung lässt sich die Tendenz beobachten, die Bedeutung der Stadt vor ihrer Einnahme durch David höher zu veranschlagen, als dies lange Zeit der Fall war.
Wie sah die Religion im vordavidischen Jerusalem aus? Nur wenige Zeugnisse sind uns aus dieser Zeit überliefert. Aus ihnen, einigen Analogieschlüssen und auf der Grundlage alttestamentlicher Texte können wir uns ein ungefähres Bild davon machen. In der Mittleren Bronzezeit war Jerusalem eine befestigte kanaanäische Stadt mit ungefähr 1800 Einwohnern, für damalige Verhältnisse alles andere als ein unbedeutendes Dorf. An ihrer Spitze stand ein Stadtfürst, der sich König nannte. Zur Religion des mittelbronzezeitlichen Jerusalem gehörte sehr wahrscheinlich der Sonnenkult. Die Verehrung der Sonne ist uns aus der ägyptischen Religion bekannt. In ihr wird der Pharao in eine sehr enge Beziehung zum Sonnengott gerückt. Die Verbindung des Königtums mit der Sonne ist uns auch aus dem Alten Testament bekannt. Seinem Sohn Salomo gibt David im Königstestament den Wunsch mit auf den Weg, der Name des Königs „soll ewig bestehen, solange die Sonne bleibt, sprosse sein Name. Mit ihm soll man sich segnen, ihn werden seligpreisen alle Völker“ (Ps 72,17). Neben dem Sonnenkult kann als ein weiteres Element genuin kanaanäischer Religion die Verehrung eines Wettergottes und einer Fruchtbarkeitsgöttin angenommen werden.
In der Späten Bronzezeit (1550–1150 v. Chr.) war Jerusalem administratives Zentrum eines Stadtstaates unter der Oberherrschaft Ägyptens. Aus den Amarnabriefen ist uns der Name eines seiner Stadtkönige überliefert: Abdi-Cheba. Der Name heißt übersetzt: „Diener der Cheba“. Cheba war sehr wahrscheinlich eine Göttin aus nordsyrisch- hethitischer Tradition. Der Name „Eva“ – „Mutter alles Lebendigen“ (Gen 3,20) – könnte damit zusammenhängen.
Weiteren Aufschluss kann uns der Name der Stadt geben. Wahrscheinlich deutet der Name Jeru-schalem auf den Gott Schalem hin, den Gott der Abenddämmerung. Jerusalem wäre also die dem Gott Schalem geweihte Stadt. Pendant Schalems war Schachar, die Gottheit der Morgendämmerung. Weiß der Beter noch, in welcher Tradition er steht, wenn er in Psalm 57,9 betet: „Wacht auf, Harfe und Leier! Ich will die Morgenröte wecken“? Noch der Dichter des Ijobbuches spricht von den „Wimpern der Morgenröte“ (3,9; 41,10). In der wahrscheinlich ursprünglichen Version von Psalm 110 wird der Priesterkönig von JHWH „aus dem Schoß der Morgenröte“ (Vers 3) gezeugt.
Vor allem zwei religiöse Traditionen kommen im vordavidischen Jerusalem zusammen: aus Ägypten die Verehrung der Sonnengottheit mit ihrer Verbindung zum Königtum und aus dem vorderasiatischen Raum der Kult des Wettergottes, der durch Kampf gegen die Mächte des Todes die Vegetation in Gang hält. David und seine Leute nehmen die Stadt im Namen ihres Gottes, JHWH, der aus einer Wüstenregion im Süden stammt, ein. Was passiert nun in der Stadt des Gottes Schalem, die mit der Einnahme durch den König Israels zur „Stadt Davids“ (2 Sam 6,7) und schließlich zur Stadt jenes Gottes (Ps 46,5) wird, von dem der Beter der Psalmen bekennt: „Groß ist JHWH und hoch zu loben in der Stadt unseres Gottes“ (Ps 48,2)?