In der Reihe der Schreckensvisionen, mit denen das Corona-Virus im Frühjahr unaufhaltsam über Europa herfiel, waren die ins Bodenlose stürzenden Aktienindizes nur eine Nachricht unter vielen. Zeitungen und Fernsehsendungen überschlugen sich damals mit düsteren Prognosen, wie die Seuche, die in anderen Teilen der Erde bereits gnadenlos wütete, die demografisch sowieso gefährdete deutsche Bevölkerung treffen würde. Krankenhäuser wären binnen Wochen überfüllt, hieß es da, das Gesundheitssystem sei am Ende. Die Ansteckungsrate könnte über Nacht explodieren, die Todeszahlen könnten in ungeahnte Höhen schnellen.
Diese Katastrophe ließ sich bisher weitgehend abwenden. Während andere Länder noch immer beziehungsweise wieder mit den sehr dramatischen konkreten Auswirkungen der Erkrankung kämpfen, hat hierzulande schon eine gewisse Normalität Einzug gehalten. Wenn auch niemand weiß, ob oder wie schwer eine zweite Infektionswelle im Herbst oder Winter das Land heimsuchen wird. Die überwiegende Mehrheit zumindest hat sich anders als die rücksichslosen Minderheiten beziehungsweise Leugner der Gefährlichkeit von Corona voller Verantwortung für sich und die Nächsten an die Masken gewöhnt, hält Abstand, achtet auf Hygieneregeln und hofft auf einen Impfstoff. Auch die Aktienkurse haben sich – nach dem schwersten Einbruch des Bruttoinlandsprodukts in der Nachkriegszeit – wieder gefangen und sich in einem Tempo nach oben entwickelt, das Experten überrascht und den ein oder anderen risikofreudigen Anleger zumindest auf dem Papier reich gemacht hat. Inzwischen steht der Index wieder fast bei Vor-Corona-Werten.
Alles also nochmal gut gegangen? Ist die hiesige Wirtschaft, wie das Gesundheitssystem, mit einem blauen Auge davongekommen? Oder steht die wahre Rechnung noch aus? „Die Corona-Rezession hinterlässt tiefe Spuren im Zahlenwerk des Bundes“, schreibt der Finanzjournalist Christian Reiermann im „Spiegel“. Die Wirtschaftsprognosen für die nächsten Jahre wurden gerade wieder deutlich nach unten korrigiert. Der Mittelstandsverbund warnte vor einer Pleitewelle in naher Zukunft. „Die Weichen für eine wirtschaftliche Wiederbelebung sind noch nicht befriedigend gestellt“, schrieb Verbundspräsident Eckhard Schwarzer in einem Brief an Finanzminister Olaf Scholz. Eine ganze Reihe von kleinen und mittelgroßen Unternehmen hätten ihre finanziellen Polster aufgebraucht und ständen trotz der staatlichen Finanzspritzen kurz vor dem Ruin. Hinzu kommt das Heer von Selbstständigen, die in Heimarbeitszeiten nur einen Bruchteil ihrer normalen Einnahmen verdienen konnten oder – etwa im kulturellen Bereich – ein monatelanges faktisches Berufsverbot verkraften mussten. Wie tief das Loch ist, das der Wirtschaft mit Geschäftsschließungen und Reiseverboten gegraben wurde, wird sich noch zeigen. Aber die Fachleute suchen intensiv nach Auswegen.
„Helikoptergeld“ wie vom Himmel
Einer von ihnen ist der langjährige Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung Hans-Werner Sinn. In seinem neuen Buch „Der Corona-Schock“ vertritt der Ökonom die These, dass die politischen Maßnahmen wie Ausgangsbeschränkungen und Kontaktauflagen zwar teuer waren – penibel durchgerechnet dreißig Milliarden Euro pro Woche kosteten –, aber doch notwendig waren, um Schlimmeres zu verhindern. An anderer Stelle hält sich Sinn dagegen nicht mit Kritik am Krisenmanagement der Regierung zurück. Besonders „die wundersame Geldvermehrung“, mit der die Politik die Haushaltslöcher stopfen will, sieht er als gefährlich an. So wurde die Europäische Union selbst zum Kreditnehmer für einen erheblichen Teil der verschiedenen Rettungspakete – eigentlich ein Verstoß gegen ihre Richtlinien. Für die einzelnen Länder war es, als fielen die Hilfsgelder einfach vom Himmel. Solches „Helikoptergeld“ ist zwar kurzfristig praktisch, kann aber gefährlich werden, etwa wenn es die Wirtschaft in eine Inflation stürzt. Hinzu kommt, dass die neu angehäuften Schulden zwar nicht direkt im Haushalt der einzelnen Länder auftauchen, aber genauso von zukünftigen Generationen abgezahlt werden müssen. Dabei hätte es aus Sicht von Sinn sehr viel bessere Wege gegeben, kurzfristig an Kapital zu gelangen: „Es wäre in der heutigen Situation überhaupt kein Problem, die benötigten Geldmittel bei den Sparern einzusammeln.“ Mehr als genug Bürger würden ihr Vermögen liebend gern in Staatspapiere anlegen, besonders in Zeiten von Negativzins und unsicherem Aktienmarkt.
Mit solchen realökonomisch gedeckten Geldern hätte Deutschland auch viel früher internationale Unterstützung anbieten können – etwa für Italien, als dies im März von der vollen Wucht des Virus getroffen wurde. „Wir brauchen doch nicht die EU, um unserem Nachbarn zu helfen“, schreibt Sinn großzügig. Und wird dann sogar noch grundsätzlicher: „Wenn ich jemand anderem helfe, dann tue ich das aus eigenem Antrieb, und ich tue es unabhängig davon, ob andere es auch tun.“ Allerdings wird schnell klar, dass Deutschland bei einer solchen direkten, gut nachbarschaftlichen Rettungsmission verhältnismäßig „kostengünstiger“ weggekommen wäre als bei der kollektiven europäischen Verschuldung. Jetzt, wo die Wiederaufbauprogramme auf europäischer Ebene verhandelt werden, geht es plötzlich „um ganz andere Summen, und man ist schnell der Bösewicht, wenn es nicht reicht“.
Argumente, keine Gefühle
Allgemein fällt auf, dass Sinns Unterstützungsvorschläge nicht pure moralische Appelle, sondern immer ökonomisch quasi durchgerechnet sind. Nächstenliebe hat eben auch rationale Begründungszusammenhänge. „In einem Volkswirt sträubt sich alles, wenn Gefühle und Moral die Politikdebatten dominieren“, sagte der Ökonom in einem Interview mit der „Welt“. Alle wollen Geld und machen sich dafür medial stark. „Das ist ja ein Kennzeichen der modernen Medienwelt. Es wird immer wichtiger, Kommunikationsprofis zu haben, die in der Lage sind, die Violine der öffentlichen Wahrnehmung und Verlautbarung zu spielen.“ Zum Beispiel der Finanzminister, der neue Maßnahmen zum Schutz von Unternehmen, Grundsicherung für Selbstständige oder Kindergeld verkündet. „Man braucht jetzt nur Corona zu sagen, und es ist Geld für alles und jedes da“, heißt es im Buch. „Also bitte stopp! Jetzt ist genug! Wir haben des Guten schon zu viel getan.“
Wer die Rechnung zahlt
Das klingt schnell hartherzig. Es kann aber auch eine willkommene Abwechslung im Simmengewirr der öffentlichen Meinungen sein und ein rationales Gegengewicht zur Mentalität auch von kirchlichen Verbänden – von Caritas und Diakonie bis zu Leitungsgremien –, die sehr schnell dabei sind, Gelder für den guten Zweck zu fordern und sich weniger Gedanken über die möglichen Doppeldeutigkeiten solcher Maßnahmen machen, die ambivalenten realwirtschaftlichen Folgen.
Das gilt umso mehr, weil noch nicht klar ist, wer am Ende die Rechnung für die staatlichen Unterstützungsprogramme zu bezahlen hat. „Da wird natürlich wieder der Wunsch aufkommen, die Reichen zu schröpfen“, prophezeit Sinn. Die würden sich noch höhere Steuersätze nach seiner Einschätzung allerdings nicht lange bieten lassen, schon jetzt seien „Fluchtbewegungen“ in Länder mit weniger rigider Finanzpolitik zu beobachten. Dass Deutschland für Investoren noch immer eines der attraktivsten Länder ist und auch international insbesondere Anleger aus China, den arabischen Staaten oder auch aus der reichen afrikanischen „Elite“ anlockt, wird dabei nicht als Argument gegen die befürchtete stärkere deutsche Kapitalflucht genannt. So wie die Auswirkungen, die die Corona-Wirtschaftseinbrüche über den europäischen Tellerrand hinaus haben, im Buch allgemein etwas kurz kommen.
Und auch bei der Rechnung, dass eine Wirtschaftskrise die finanzielle Ungleichheit zwischen den gesellschaftlichen Schichten eher verringert als verstärkt, lohnt ein zweiter Blick. Natürlich: Man kann in der schlimmsten Krise nur dann viele Millionen verlieren, wenn man sie vorher besessen hat. Ein Kleinanleger verliert „weniger“, für seine Verhältnisse jedoch viel. Auch ein Angestellter fällt nicht so tief, wenn er statt seines Gehalts plötzlich für begrenzte Zeit Kurzarbeitergeld bezieht. Aber der Autor muss sich schon die Frage gefallen lassen, ob dabei nicht eine wichtige menschliche Komponente ausgeklammert wird. Es ist sehr wohl ein erheblicher Unterschied, ob ein Konzernchef, Spitzensportler oder Unterhaltungsstar einen Teil seines Vermögens verliert oder ob ein Kleinsparer mit bescheidenen Lebensverhältnissen sich noch mehr einschränken muss. Zumal andere Experten längerfristig von einer Verschärfung der Kluft zwischen Arm und Reich durch Corona ausgehen.
Neue, alte Normalität
Wie tief Sinns Vertrauen in die Selbstregulierung des Kapitals ist, wird auch an anderer Stelle deutlich. Auf die Frage nach einer engeren Verknüpfung der europäischen Finanzmärkte sprach er im „Welt“-Interview von der „optimalen Aufteilung“, für die der Geldmarkt gesorgt habe. „Wenn man diesen Prozess stört, indem man Kapital aus politischen Gründen anders lenkt, als es sich durch die Eigentümer verteilt hätte, entstehen Wachstumsverluste.“ Immerhin nennt er in seinem Buch mehrere Probleme, die auch die Gegner eines entfesselten Kapitalmarks beklagen. Zum Beispiel: wie einfach Unternehmen Steuerleistungen umgehen können. Oder wie schnell etwa während einer Bankenkrise öffentliche Gelder bereitstehen, um private Firmen zu retten. „Gewinne werden also privatisiert, und Verluste werden sozialisiert.“
Für eine völlig veränderte Nach-Corona-Zeit, in der Fragen der sozialen Gerechtigkeit, des Kapitalismus und des Klimaschutzes grundsätzlich neu verhandelt wurden, sieht Sinn allerdings kaum Chancen: „Die neue Normalität wird der alten Normalität sehr ähnlich sein.“ Sobald es möglich ist, werden die Menschen wieder in Scharen in den Urlaub fliegen, in Autokolonnen ins Büro fahren und sich mit ihrem Platz im kapitalistischen System arrangieren. „Die aktuelle Krise wird wieder in Vergessenheit geraten“, heißt es im letzten Kapitel. „Das ist wie mit den Finanzkrisen. Man weiß, die entstehen regelmäßig durch Bankenzusammenbrüche… Und dann überlegt man in der Krise, ob man nicht dagegen Vorkehrungen treffen sollte. Aber wo soll das Eigenkapital herkommen? Dann sagt man, das machen wir aber, sobald die Wirtschaftslage sich normalisiert hat. Und wenn sie sich normalisiert hat, dann, Pustekuchen, vergisst man das ganze Thema.“
Wer das verhindern will, muss eine Politik belohnen, die langfristig plant. Und Stück für Stück ein System errichten, von dem möglichst viele Menschen profitieren – bestenfalls über Generationen hinweg. Nichts anderes verlangt auch das Prinzip der Nachhaltigkeit der christlichen Soziallehre. Und trotzdem: Ob man sich von rein ökonomischen Abwägungen oder dabei doch auch von moralischen Haltungen leiten lässt, läuft nicht ganz auf dasselbe hinaus.
Hans-Werner Sinn: „Der Corona-Schock. Wie die Wirtschaft überlebt“ (Verlag Herder, Freiburg 2020, 219 S., 18 €)