PriestertumDie Last der kultischen Reinheit

Ein aktueller Aufsatz von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. hat eine heftige Debatte ausgelöst über das lehramtliche Verhältnis von Papst und Ex-Papst – und über die Zölibatsfrage. Eine genauere Betrachtung könnte Reformwilligen sogar zugutekommen.

Die aktuellen Äußerungen des aus dem Papstamt geschiedenen Benedikt XVI. zum Priestertum, zum Zölibat haben heftige innerkirchliche Turbulenzen ausgelöst und gerade in den weltlichen Medien viel Widerhall gefunden. Die Stellungnahme, aufgenommen in ein Buch zum Thema, wurde als klare Gegenposition zum amtierenden Papst Franziskus gedeutet. Das war – wer auch immer von den an der Publikation Beteiligten im nachfolgenden widerspruchsvollen Spiel zur Schadensbegrenzung beziehungsweise Gesichtswahrung die wahre Wahrheit sagt – jedenfalls keine falsche Wahrnehmung. Papst Franziskus hatte ja schon bei früherer Gelegenheit bekundet, dass er sich vorstellen könnte, unter ganz besonderen Bedingungen, angesichts einer schweren seelsorglichen Notlage in sehr begrenzten Ausnahmefällen und entlegenen Gegenden verheiratete bewährte Männer auch im lateinischen Teil der katholischen Kirche zum Priesteramt zuzulassen. In den mit Rom verbundenen katholischen Ostkirchen gibt es ja – wie in orthodoxer sakramentaler Tradition – seit jeher verheiratete Gemeindepriester. Sollte mit Ratzingers Einwurf, einem Aufsatz, ein Pflock gegen die Mehrheit der Amazonas-Bischöfe eingerammt werden, die bei der jüngsten regionalen Synode Papst Franziskus um eine entsprechende Erlaubnis baten?

Der betreffende Aufsatz mit dem schlichten Titel „Das katholische Priestertum“ will Verbindungen, aber auch Differenzen zwischen dem alttestamentlichen Priestertum und dem durch das Christusereignis neu begründeten Priestertum aufzeigen. Darin äußert sich Joseph Ratzinger/Benedikt nur recht knapp zum Zölibat. Die Passage ist außerdem nicht in der Zeitform des Präsens, sondern der des Imperfekt gehalten, als ob der Autor nur habe erklären wollen, wie es zu der heutigen Regelung gekommen sei. Ausgangspunkt ist die kultische Reinheit, die vom alttestamentlichen, jüdischen Tempelpriestertum sexuelle Enthaltsamkeit vor dem Kultdienst einforderte. Das hängt zusammen mit archaischen magischen Vorstellungen. Demnach werden Geschehnisse um Zeugung, Geburt, Menstruation, Krankheit und Tod – Sperma, Blut, körperliche Ausscheidungen, Absonderungen, Ausdünstungen – von einer Aura des Weltlichen, von einem Fluidum des Existentiellen begleitet, was die Sphäre des Heiligsten, das über alles Irdische, Unvollkommene, Körperliche, Defekte erhaben ist, stört, verunreinigt, negativ beeinflusst. Es geht also nicht in erster Linie um moralische Wertungen.

Ohne Sexualität – dann ja?

Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. sieht die Verbindung beziehungsweise den Unterschied zwischen dem Priestertum des Alten Bundes und dem des durch Christus erneuerten Bundes so: „Da die alttestamentlichen Priester sich nur an bestimmten Zeiten dem Kult zu widmen hatten, waren Ehe und Priestertum miteinander durchaus vereinbar… Für die Priester der Kirche Jesu Christi war die Situation durch die regelmäßige oder in vielen Teilen tägliche Eucharistiefeier grundsätzlich verändert. Ihr ganzes Leben steht in der Berührung mit dem göttlichen Geheimnis und verlangt so eine Ausschließlichkeit für Gott, die eine andere, das ganze Leben umgreifende Bindung wie die Ehe neben sich ausschließt. Aus der täglichen Eucharistiefeier und aus dem umfassenden Dienst für Gott, der darin mitgegeben ist, ergab sich die Unmöglichkeit einer ehelichen Bindung von selbst. Man könnte sagen, die funktionale Enthaltsamkeit war von selbst zu einer ontologischen geworden. Damit war von innen her ihre Begründung und Sinngebung verändert.“ Das Funktionale wird nach Ratzinger zu etwas Wesenhaftem, zum seinsmäßig Wesensbestimmenden des Priesters.

Daraus folgert Ratzinger: Die Ehe (und damit gegeben eben auch die Familie) „nahm den Menschen als Ganzen in Anspruch, und der Dienst für den Herrn beanspruchte ebenfalls den Menschen ganz, so dass beide Berufungen zugleich nicht realisierbar erschienen. So war die Fähigkeit, auf die Ehe zu verzichten, um ganz für den Herrn da zu sein, zu einem Kriterium für den priesterlichen Dienst geworden.“

Faktisch hält der Ex-Papst am Verständnis der kultischen Reinheit fest, ohne eigens zu thematisieren, inwiefern solche magischen Sichtweisen in der heutigen Zeit eines aufgeklärten Bewusstseins überhaupt noch tragfähig, geschweige denn plausibel sind. Auch wendet Ratzinger gegen Einwände, dass es sich dabei um eine „negative Einschätzung des Leibes und der Sexualität handele“, selber sofort ein, das sei mitnichten der Fall. Dann aber weist er darauf hin, dass in der frühen, der alten Kirche verheiratete Männer die Priesterweihe empfangen konnten, wenn sie sich daraufhin zu sexueller Abstinenz verpflichteten. Das aber heißt: Faktisch geht es doch einzig und allein um den Sex. Denn Ratzingers Argument, dass der Priester ganz dem Christusdienst hingegeben sein soll, was die Hingabe an eine Familie ausschließt, fällt mit diesem kirchenhistorischen Ausgriff – womöglich unbemerkt – ganz gegen seine Absicht in sich zusammen. Jene sexuell enthaltsamen Priester der frühen Kirche haben sich ja weiterhin um ihre Familien gesorgt, mussten sich um diese in Hingabe kümmern. Ratzinger/Benedikt stützt also faktisch alles doch allein auf die kultische Reinheit, die er durch sexuelle Betätigung als befleckt, verunreinigt betrachtet. Eine antiquierte, heutzutage schlichtweg nicht mehr plausible Sichtweise.

Die Welt wachhalten für Gott

Im Gegensatz dazu hat der Ex-Papst – leider in der Debatte total ignoriert – im weiteren Verlauf seines Aufsatzes sehr berührend umschrieben, wie das Wesen des priesterlichen Dienstes auf moderne, innovative Weise zu verstehen sei: „Der Priester soll ein Wachender sein… Er soll die Welt wachhalten für Gott.“ Ratzinger verweist dazu auf das zweite Hochgebet der römischen Liturgie, in dem es heißt: „Wir danken dir, dass du uns berufen hast, vor dir zu stehen und dir zu dienen.“ Der Priester steht vor Gott, und er steht als solcher für alle Menschen, für die Weite der Menschheit ein. „Es ist nicht mehr Verwaltung der Tempelopfer, sondern Einbeziehung der Menschheit in die weltumspannende Liebe Jesu Christi.“ Der Priester, der vor Gott steht und die Welt wachhält für Gott, vielleicht sogar wie eine Art Hebamme die Menschen anleitet zur Gottesgeburt, öffnet somit deren Blick auf Gott hin. Letztlich ist das der neue Kult, nicht ein archaischer Opferkult, sondern ein Kult des Geistes, der selbst inmitten der Gottvergessenheit einer säkularisierten Kultur priesterlich sakramental das Diesseitige, das Profane und Materielle transparent werden lässt auf Gott selbst, seinen Geist.

Dieser priesterliche Dienst in einem modernen Sinne hätte allerdings nichts mehr zu tun mit magisch assoziierten Reinheits- und Unreinheitsvorstellungen. Die Last der kultischen Reinheit könnte fallen. Gerade Ratzingers/Benedikts Deutung des priesterlichen Dienstes als Wächteramt, als Beistandsamt in des Menschen Gottesfrage gäbe Raum – sogar in der Zölibatsfrage.

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