Kardinal Joachim MeisnerGefährlich, geheim und mutig

Dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung sind die persönlichen Erinnerungen von Kardinal Joachim Meisner erschienen. Sie werfen ein helles Licht vor allem auf eine für Katholiken in der DDR besonders bedrängende Zeit – wider das Verdrängen und Vergessen.

Als der Berliner Kardinal Alfred Bengsch im Dezember 1979 58-jährig starb, verlor die katholische Kirche in der DDR mit einem Schlag ihre prägende Persönlichkeit. Wie tief diese Zäsur ging, wurde mir, dem Kerze tragenden Ministranten, damals beim Pontifikalrequiem klar: Ein riesiger Zug von Kardinälen mit Franz König (Wien), Franciszek Macharski (Krakau), László Lékai (Esztergom) František Tomášek (Prag), Joseph Höffner (Köln) und Joseph Ratzinger (München), von evangelischen Landesbischöfen und russisch-orthodoxen Würdenträgern – eigentlich fehlte nur der polnische Papst – folgte auf einer von Volkspolizisten gesperrten Route Bengschs Sarg. Für einen Moment machte diese Prozession die Mitte der sozialistischen Hauptstadt zum Zentrum der katholischen Weltkirche. Schon Anfang 1980 berief Johannes Paul II. Joachim Meisner (1933–2017) zum Bischof von Berlin.

Meisners Autobiografie entstand in enger Zusammenarbeit mit der Journalistin Gudrun Schmidt. Sie merkt über Meisners Werdegang als Theologiestudent und Priester in Thüringen, Weihbischof in Erfurt-Meinigen, Bischof in der Doppelstadt Berlin sowie seine Zeit als Kölner Oberhirte an: „Viele Stunden saßen wir zusammen. Notizen brauchte er nicht. Kardinal Meisner hat erzählt, und ich habe zugehört.“

Der Stern wider den Atheismus

Tatsächlich verdichtet sich in der Biografie des Flüchtlings Meisner die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts: Geboren am Weihnachtstag des Schicksalsjahres 1933 in Lissa, in der Nähe von Breslau, musste der Zwölfjährige im Kriegswinter 1945 mit seiner Mutter und den drei Brüdern die schlesische Heimat Hals über Kopf verlassen, wie er im Eingangskapitel „Kindheit, Krieg und Vertreibung“ spannend berichtet. Die Flucht vor der Roten Armee führte die Meisners in die Thüringer Diaspora, wo der junge Mann miterlebte, wie ein neuer weltanschaulicher Leitstern aufstieg. Meisners Bereitschaft, Priester zu werden, war zugleich eine Absage an die atheistische Ideologie. Mitte der siebziger Jahren kam es zu engen persönlichen Kontakten mit dem Krakauer Erzbischof Karol Józef Wojtyła, der die polnischen Sozialisten in andauernde Alarmbereitschaft versetzte. Als Höhepunkt der Autobiografie ist, etwa in der Mitte des Bandes, das Kapitel „Bischof in der geteilten Hauptstadt“ anzusehen. Die Berliner Erfahrungen an der Nahtstelle der Systeme nehmen ungefähr ein Viertel des Buchumfangs ein. Sie erscheinen dem Rezensenten, der vieles aus der Nähe beobachten konnte, von besonderer Bedeutung.

Meisner erinnert sich an die „letzte Sitzung mit Kardinal Bengsch“: Plötzlich habe er den Erfurter Bischof Hugo Aufderbeck vor der gesamten Berliner Bischofskonferenz so beschimpft, dass dieser in Tränen ausgebrochen sei. Was war geschehen? Aufderbeck hatte den Wunsch des Neutestamentlers Heinz Schürmann unterstützt, dessen Mitarbeiterin am Erfurter Philosophisch-Theologischen Studium, dem einzigen Ausbildungsort für Priester in der DDR, zu promovieren. Anlass für Bengschs Wutausbruch war die Befürchtung, den kirchenpolitischen Status quo und damit die gesamte Priesterausbildung zu gefährden.

Die von Meisner geschilderte Szene ist bezeichnend. Sie verweist auf ein hohes Konfliktpotential: den Dualismus zwischen Erfurt und Berlin, zwischen dem theologischen Zentrum des ostdeutschen Katholizismus und seiner kirchenpolitischen Dominante im strukturkonservativen Berlin. Am folgenden Tag habe sich Bengsch jedoch vor seinen Mitbruder hingekniet und um Verzeihung gebeten. „Ich wusste nicht, wie groß Bengsch ist“, war Aufderbecks Kommentar in einem späteren Schreiben an alle Mitglieder der ostdeutschen Bischofskonferenz.

Als geradezu diabolischen Anstifter für die Übersprungshandlung des Berliner Kardinals identifiziert Meisner den langjährigen Sekretär der Bischofskonferenz, Paul Dissemond, der von der Staatssicherheit als IM „Peter“ geführt wurde und ihm die Bengsch-Nachfolge schwermachte. Die Kontroversen „erreichten einen Höhepunkt, als Prälat Dissemond feststellte, dass…die Statuten eine zeitlich begrenzte Wahl des Vorsitzenden der Berliner Bischofskonferenz nicht erlaubten“. Der Dresdner Bischof Gerhard Schaffran blieb daraufhin Vorsitzender und brach alsbald ein Tabu, indem er 1981 einen Antrittsbesuch beim Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker machte.

Meisner, der als Kölner Erzbischof autoritär handelte, im – so Johannes Paul II. – „schwierigsten Bistum der Welt“ im Ostteil jedoch einen vorsichtigen gesellschaftspolitischen Öffnungsprozess einleitete, rechnet mit einem weiteren Berliner „Polit-Prälaten“ ab: mit Gerhard Lange, der sich jeden Dienstag mit dem Staatssekretär für Kirchenfragen beriet. Lange habe „sich bei seinen Treffen auf widerliche Weise über die Bischöfe ausgelassen“, aber sich zugleich als „rettender Engel für die katholische Kirche in der DDR“ gesehen.

Dagegen spricht der 1983 in Rom zum Kardinal kreierte Meisner mit Wärme von seinen Kontakten zur tschechoslowakischen Untergrundkirche. Als „höchst gefährlich“ bezeichnet er rund sechzig geheime Priesterweihen. Jeweils an einem Samstagnachmittag hätten ihn zwei Kandidaten, meist Salesianer, Jesuiten und Franziskaner, besucht und sich mit einem Erkennungszeichen, einer kleinen Figur des heiligen Nepomuk, ausgewiesen. „Die Weihe nahm ich dann in der Nacht in meiner winzigen Hauskapelle in Berlin vor.“

Dass die ostdeutschen Katholiken sich im Juli 1987 bei ihrem „berühmten Katholikentreffen“ mit rund 100000 Teilnehmern – damit wurden zehn Prozent aller DDR-Katholiken mobilisiert – in Dresden versammelten, erscheint Meisner als Sternstunde. „Welch ein Kampf war es gewesen, diese Veranstaltung durchzusetzen.“ Erst als er gedroht habe, selbst „zu Staatssekretär Gysi zu gehen“, hätten die Polit-Prälaten nachgegeben. In Erinnerung bleibt vor allem Meisners Wort: „Die Christen in unserm Land möchten…keinem andren Stern folgen als dem von Bethlehem.“

Die Stasi wusste es früher

„Der erste Fastensonntag 1989 sollte der Tag meiner Einführung als Erzbischof von Köln sein. Beim vorausgegangenen Karnevalsumzug am Rosenmontag hatten mich die Jecken bereits gebührend…aufs Korn genommen“, ist im Kapitel über die Kölner Zeit zu lesen. Dass Meisners Name ganz oben auf der römischen Dreierliste stand – darüber war die Staatssicherheit im Sommer 1988 durch „IM Peter“, den Berliner Prälaten Paul Dissemond, bereits früher als das Domkapitel informiert.

Die massiven Widerstünde, mit denen der Wunschkandidat des Papstes in der Kölner Zeit zu kämpfen hatte, verschweigt der Nonkonformist keineswegs. Er lässt aber vieles auf sich beruhen und verzichtet auf lückenlose Auskünfte. Meisner beschreibt den „Konflikt um die Schwangerschaftsberatung“, setzt sich jedoch nicht mit der „Kölner Erklärung“ auseinander und unterlässt jede Äußerung gegenüber seinem Mitbruder Karl Lehmann. Leben kommt in die Darstellung, wenn er im Abschlusskapitel „Großereignisse als Höhepunkt“ über „seinen“ Weltjugendtag 2005 erzählt, von „rund einer Million Jugendlichen, die aus der ganzen Welt bei uns begeistert ihren Glauben bekannten und feierten“.

Was wäre, wenn der Kardinal den Mauerfall noch in Berlin selber erlebt hätte? Dann wären die ostdeutschen Katholiken besser gewappnet gewesen für die Wiedervereinigung. Allerdings hätte es stärkere Kontroversen wohl mit den „C“-Parteien gegeben, wie Bemerkungen Meisners zu Helmut Kohl (1930–2017) nahelegen. Möglicherweise hat Johannes Paul II. manches ein wenig anders gesehen. Jedenfalls ging der polnische Papst 1996 zusammen mit Bundeskanzler Helmut Kohl symbolträchtig durch das Brandenburger Tor und erinnerte so an den Augenblick von historischer Tragweite nicht nur für dieses Land und seine Bevölkerung.

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Meisner, Joachim

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Herder, Freiburg 2020, 272 S., 24,00 €

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