Die Liebe hat viele Gestalten: von der Freundschaft, der Eltern-, Kindes- und Geschwisterliebe über die Liebe zur Heimat, zu Volk und Vaterland bis zur Wahrheits- und Freiheitsliebe, und schließlich zur Nächsten-, Feindes- und Gottesliebe… Jesus selber – nach den synoptischen Evangelien zu schließen – gebraucht die Worte „Liebe“ und „lieben“ im Sinne der Liebe zum Mitmenschen äußerst spärlich. Und doch ist die Liebe zum Mitmenschen in seiner Verkündigung allgegenwärtig.
Das bedeutet: Liebe ist für ihn vor allem ein Tun. Liebe nicht primär verstanden als sentimental-emotionale Zuneigung, die ich ja unmöglich jedem Menschen entgegenbringen kann. Liebe vielmehr verstanden als wohlwollendes, hilfsbereites Dasein-für-Andere. In seinem ganzen Lehren und Verhalten, Ermutigen und Heilen, Kämpfen und Leiden wird es von Jesus verkörpert. Vom Nazarener lässt sich lernen, was der heutigen Ellbogengesellschaft mit ihren vielen Egoisten so sehr fehlt und was uns doch immer so sehr freut, wenn wir selbst es erfahren dürfen: Rücksicht nehmen und teilen, vergeben können und bereuen, Schonung und Verzicht üben und Hilfestellung geben.
Hans Küng in: „Begegnungen. Sämtliche Werke, Band 24“ (Verlag Herder, Freiburg 2020)