In meinem Hotelzimmer im schwäbischen Künzelsau findet sich ein kleines Bücherregal mit Werken, die offenbar unter dem Leitwort „Lebenskunst“ zusammengestellt worden sind. Hier stehen unter anderem Gedichte von Hermann Hesse, Aphorismen von Stanisław Jerzy Lec, die „Möwe Jonathan“ von Richard Bach – und Anselm Grüns „Buch der Antworten“. Der Untertitel „Antworten auf die Königsfragen des Lebens“ reizt natürlich. So schlage ich den Band des Benediktiners und erfolgreichen geistlichen Schriftstellers auf. „Ist Glück immer nur eine Momentaufnahme?“, so die erste Frage. Die abschließende: „Was ist mein letztes Ziel im Leben?“ Dazwischen, nein im Kern, geht es um Seele und Gott, um Freiheit und Ewigkeit.
Wie fallen die Antworten aus? Knapp und klar, inspirierend und glaubensstark. „Ziel meines Lebens ist“, so beginnt die abschließende Antwort, „dass mein Ego aufhört, das ursprüngliche und unverfälschte Bild Gottes in mir zu verstellen und dass ich immer durchlässiger werde für seinen Geist.“ Eine solche Antwort kommt nicht von der Stange. Sie verblüfft – und schickt auf einen Weg. Denn wer sie ernstnimmt, dem wird klar, dass das letzte Ziel nicht erst „dort“, vor Gottes Angesicht, gegenwärtig wird; dass die Hoffnung auf eine himmlische Vollendung unsere Kräfte nicht lähmen, sondern beflügeln will. „Arbeite an deinem Ego“, so lese ich, „schaue zu, dass du dich nicht immer wieder in deiner eigenen Oberfläche verfängst!“
Als man Jesus fragt, ob es einem Juden erlaubt sei, dem heidnischen Kaiser in Rom Steuern zu entrichten, gibt er eine hinreißende Antwort: „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!“ (vgl. Mt 22,15–21). Dieses Wort hallt seit zwei Jahrtausenden durch die christlichen Lande, auch wenn es nur die Richtung anzeigt, keine genaue Route vorgibt. Oder vielleicht gerade deshalb? Eine gute Antwort ist ja kein Schlusssatz, sondern vielmehr eine Aufforderung zum Nachdenken und Handeln. So dürfte das Steuerzahlen in einem demokratischen Staat kaum ein Gewissensdrama darstellen. Was aber gehört sonst noch dem Kaiser, der Welt?
Und was schulde ich Gott? Königsfragen, zweifelsohne. An den Antworten arbeiten wir ein Leben lang, nicht selten mit Furcht und Zittern. Denn flüchtig ist unsere Zeit, begrenzt unsere Kraft. Und „Gott und die Welt“ sind keine Kleinigkeiten! Wer beiden gerecht werden will, der muss sein Leben in den Blick nehmen, Verantwortung übernehmen. Für sich selbst, selbstverständlich, für die Lieben – und für all den großen Rest?
Wie geht das in einer Welt, die nicht erst heute „globalisiert“ ist? „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ‚einer‘ in Christus Jesus“, so der Ausruf des Apostels Paulus (Gal 3,28). Eine wahrhaft avantgardistische Vorgabe, ein Programm, das bedacht und gelebt werden will. Wie weit sind wir schon gekommen?
Und da die Welt uns nicht genug ist, streben wir irdisch-himmlische Kreaturen auch danach, Gott gerecht zu werden. Auch hier selbstverständlich beschränkt, aber nicht ohnmächtig. Zugleich fromm – und letztlich heiter? Ja, denn unser Glaube ist keine verwinkelte Philosophie, keine Kopfgeburt. Am Anfang des christlichen Abenteuers stand ein jüdischer Prediger und Heiler, der alle Fasern des Menschseins durchschritt und uns Gottes Geheimnis neu erschloss. „So sollt ihr beten…“ Und: „Im Himmel herrscht mehr Freude über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben umzukehren.“ Das war seine Lehre und noch mehr seine Praxis. Wer Gott gerecht werden will, kann darauf bauen. So suchen wir nach Antworten, die uns manchmal auch ganz unerwartet zufallen; suchen das Wenige, was wir verstanden haben, zu leben. Und die wirklich guten Antworten machen den Weg frei für ein Gehen, das hier beginnt, um sich „dort“ zu vollenden.