Wenn es nicht nach einem Kalauer klänge, könnte man das neue Buch von Patrick Roth „brandaktuell“ nennen. Es spielt 2019 während der Waldbrände in Kalifornien, die auch jüngst einen neuen, traurigen Höhepunkt erreicht haben. Der Erzähler, ein deutscher Schriftsteller, trifft sich mit Freunden auf deren Dachterrasse in Marina del Rey. Neben der wundervollen Aussicht über den Yachthafen sind hier während der vier Tage des Beisammenseins immer wieder Rauchwolken und der Feuerschein der Buschbrände auszumachen.
Der Schriftsteller war ursprünglich angereist, um einer verstorbenen Freundin zu gedenken. Doch die Trauerfeier wird wegen der Brände zunächst verschoben, im Laufe der Tage ganz abgesagt. So verabreden die vier Freunde, sich gegenseitig Geschichten vorzulesen, wie sie es früher schon einmal getan haben. Die Texte stammen alle vom Erzähler, es ist das Manuskript eines Buches „Gottesquartett“. So weit die Rahmenhandlung.
In den vier Geschichten selbst geht es um nicht weniger als das Verständnis der Wirklichkeit. Für den Erzähler erschöpft sie sich nicht in der „fassbaren, äußeren Realität“ mit ihren unverbundenen Erscheinungen, wie wir sie im Alltag wahrnehmen. In der Tiefe seien die Dinge vielmehr verwoben durch einen ewigen Sinn, der ihnen eingestiftet ist durch Gott. Seine Stimme meldet sich im individuellen und kollektiven Unbewussten „feinfühlig, mit unfassbarer Weisheit – und einer Seelengeduld“.
Diese geheime Sprache des Unbewussten wird im Buch hörbar gemacht durch ein dichtes Gewebe von erzählten Begebenheiten aus dem Leben der Freunde und aus der Weltgeschichte, durch biblische Geschichten, Legenden und Mythen, durch Deutungen zu literarischen Texten (etwa von Hölderlin und Kafka), durch Interpretationen zu Szenen berühmter Filme, durch Reflexionen zu Sprache und Zahlenmystik, zu Archetypen und vor allem durch ein gutes Dutzend Träume. Die Texte sind sprachlich und gedanklich anspruchsvoll. Da ist es klug von unserem Erzähler, zur Erholung immer wieder etwas Gesellschaftsklatsch aus Hollywood einzustreuen oder humorvolle Passagen wie das Gespräch mit einem Fernsehmechaniker, zu dem er sich während der Reparatur auf den Teppich legte.
So entsteht auf engem Raum ein Erzähl- und Gedankenpanorama, das in einem kurzen Epilog gar den Bogen zur aktuellen Covid-19-Pandemie schlägt. In diesem Erzähl-Raum können die Freunde gegen die näher rückende Katastrophe „rettenden Abstand gewinnen“ – und die Leser mit ihnen. Dieses Setting ist aus der Literaturgeschichte gut bekannt. Auf diese Weise haben sich bereits in Boccaccios „Decamerone“ junge florentinische Adelige vor der Pest des Jahres 1348 in ein Landhaus gerettet. Und auch in Goethes Novellensammlung „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ (darauf spielt der Untertitel bei Patrick Roth an) flüchten sich Emigranten vor den Wirren der Französischen Revolution auf das Gut einer Baronesse. Allerdings: Solche rettende Distanz ist wohl nur den Menschen auf den Dachterrassen dieser Welt möglich. Die Alten- oder Krankenpflegerin, der Arbeiter in einem Schlachthof, die Fahrerin bei einem Zustelldienst haben diese Möglichkeit nicht. Sie sind vielleicht eher auf rettende Nähe angewiesen.