Bekanntlich beginnt die Geschichte des Christentums erst mit der Auferstehung und dem mutigen Bekenntnis der Apostel zu ihm als dem Gekreuzigten und Auferstandenen. Jesus selbst war von seiner Geburt bis zu seinem Tode Jude, auch die Apostel waren alle Juden gewesen. Durch die Missionierung von Nichtjuden im Römischen Reich wurde das griechische Denken – auch das der jüdischen Diaspora – für die christliche Theologie immer einflussreicher. Dadurch entfernte sich ihr Glaube vom ursprünglich jüdischen Denken Jesu. Nachdem das Christentum 380 zur Staatsreligion des Römischen Reiches geworden war, waren die Christen die „Sieger“. Die daraus folgende tragische Auseinandersetzung des Judentums mit dem Juden Jesus hat der Rabbiner Walter Homolka in sechs Kapiteln eindrucksvoll nachgezeichnet.
Das erste Kapitel behandelt die „Jesusbilder von der Antike bis zur frühen Neuzeit“. Es beschreibt die jüdische Auseinandersetzung mit der christlichen Deutung Jesu als Mensch gewordenem Sohn Gottes ebenso wie die christliche Talmudkritik. Dennoch gab es schon damals einzelne jüdische Stimmen, die eine positive Sicht der Christen befürworteten. „So erklärte Rabbi Menachem Ha-Meiri von Perpignan (1249–1316), die Christen seien keine Götzendiener, sondern verträten eine Lehre von hohem ethischen Standard.“
Das zweite Kapitel ist der christlichen wie jüdischen Leben-Jesu-Forschung gewidmet. Hier kommt es in der Aufklärung zu einer ersten Annäherung der Positionen, weil christlicherseits die Frage nach dem historischen Jesus zu einer deutlichen Abkehr vom Dogma führte und Jesus als Messias innerhalb seines jüdischen Umfelds in den Mittelpunkt des Interesses rückte. Christliche Theologen wie Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) und David Friedrich Strauß (1808–1864) ebneten dafür den Weg und leiteten eine neue Sichtweise ein, die bis heute bestimmend geblieben und inzwischen für die evangelische wie die katholische Exegese kennzeichnend ist.
In den beiden folgenden Kapiteln werden jüdische Ansätze zur Leben-Jesu-Forschung in der Moderne vorgestellt. Die Palette reicht von Schalom Ben-Chorins „Bruder Jesus“ über Jacob Neusners „Ein Rabbi spricht mit Jesus“ bis zur Theologie eines Michael Wyschogrod. Er ist laut Homolka „der vielleicht wichtigste jüdische Theologe der letzten fünfzig Jahre“. Wie Jan-Heiner Tück „Zum Geleit“ feststellt, hat Wyschogrod darauf hingewiesen, dass der Prolog des Johannes-Evangeliums auf jüdische Vorstellungen von der inkarnierten Weisheit und der Einwohnung (Schekhina) Gottes, der „besonderen Präsenz Gottes bei seinem Volk“, zurückgreift. „Diese Beobachtungen haben Michael Wyschogrod zu der These veranlasst, dass die christliche Inkarnationstheologie als Steigerung der Lehre von der Einwohnung Gottes in Israel betrachtet werden kann.“
Angesichts so vieler Annäherungen meint der Autor, Josef Ratzingers neuere Versuche der Deutung des Verhältnisses von Christentum und Judentum im fünften Kapitel als „theologischen Rückfall“ bezeichnen zu können. Für Homolka zeigen Ratzingers Äußerungen: Ihm „bedeutet das lebendige Judentum von heute nichts. Für ihn ist das Judentum lediglich eine Vorform des Christentums, eine Reminiszenz. Aus der Gemeinsamkeit der Schrift erwächst keine substantielle Nähe zwischen Juden und Christen. Nirgends versucht der emeritierte Papst, die Juden als Glaubensgemeinschaft nach Christus zu verstehen, ihre Wahrheit wertzuschätzen oder gar aus der jüdischen Tradition zu lernen.“
Homolka schließt das letzte Kapitel seines instruktiven Buchs, indem er einen Wunsch Jan-Heiner Tücks, bezogen auf Jesus, zustimmend zitiert: „Christen verehren ihn als Retter und Freund. Juden können ihn als Sohn des Volkes Israel und Bruder würdigen.“