Im 19. Jahrhundert hatte Friedrich Nietzsche den „Tod Gottes“ verkündet. Religion, so schien es, war eine Sache der Vergangenheit, einer unaufgeklärten und noch nicht befreiten Epoche. Die Zukunft benötige keine Religion mehr. Doch es sollte ganz anders kommen. Seit einiger Zeit spricht man von einer Wiederkehr der Religion. Genauer müsste man sagen: der Religionen oder des Religiösen. Denn das 20. Jahrhundert war in religiöser Hinsicht enorm schöpferisch. Nicht nur innerhalb der bekannten Religionen gab es zahlreiche Reformen, Neuentwicklungen und Aufbrüche. Auch gänzlich neue religiöse Bewegungen haben sich gebildet. Die Vielfalt und Komplexität religiöser Strömungen im letzten Jahrhundert ist unüberschaubar.
Das zeigt eindrücklich diese monumentale „Globalgeschichte der Religionen im 20. Jahrhundert“ des in Bergen lehrenden Religionswissenschaftlers Michael Stausberg. Es ist ein Lesebuch, das keine trockene, abstrakt bleibende Theorie bietet, sondern lebendige Geschichte, indem es Geschichten erzählt: von Menschen, die wegweisend für das religiöse Leben gewesen sind. „Heilsbringer“ nennt Stausberg diese Menschen. In fast fünfzig kurzen Kapiteln führt er in ihre Biographien, ihren Glauben, ihr Denken und ihre Wirkungen ein. Kurz und prägnant wird Bekanntes in Erinnerung gerufen, auf oft verborgene Zusammenhänge aufmerksam gemacht und das vielfältige Potential religiöser Charismen und Bekenntnisse gezeigt. Pfingstbewegung, evangelikales Christentum und protestantische und katholische Reformbewegungen finden genauso Beachtung wie neue Aufbrüche im Buddhismus, Hinduismus, Judentum oder in der indianischen Religion. Wie auf einem Globalkonzil oder Weltparlament aller Religionen treffen sich hier so illustre Gestalten wie der 14. Dalai Lama, Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Mutter Teresa, Papst Johannes Paul II., Theodor Herzl, Muhammad Iqbal oder Thich Nhat Hanh.
Nicht wenige der von Stausberg vorgestellten Heilsbringer waren eigenwillige, skurrile und teils auch zwielichtige oder zutiefst problematische Gestalten. Bei manchen stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Anspruch und Wirklichkeit oder auch nach den negativen Folgen des von ihnen verkündeten „Heils“. Neben dem Anthroposophen Rudolf Steiner steht Annie Besant, die Begründerin der Theosophie. L. Ron Hubbard ist genauso ein Kapitel gewidmet wie Bhagwan Shree Rajneesh. Einige „Heilsbringer“ haben im vergangenen Jahrhundert größtes Unheil gebracht. Adolf Hitler, Mao Zedong, Ruhollah Musavi Chomeini und Osama bin Laden sind daher auch vertreten. Andere Personen würde man zunächst oder eigentlich gar nicht in einen religiösen Kontext einordnen. So findet sich ein Kapitel zu Pierre de Coubertin und zur Religion des Sports. Auch den Beatles sind Überlegungen zu „Musik, Rausch, Meditation“ gewidmet. „Außerirdische Erlöser“ werden in einem Abschnitt zu Carl Sagan, Stanley Kubrick und Steven Spielberg vorgestellt.
Mit diesen Miniaturen zu religiösen Licht- und Schattengestalten ist ein Panorama der globalen Religionsgeschichte des letzten Jahrhunderts entstanden. Man kann die Kapitel in beliebiger Reihenfolge lesen, vor- und zurückspringen oder dem ein oder anderen Querverweis folgen. Während nicht selten der Einfluss der Religionen heruntergespielt wird, zeigen Stausbergs Porträts, dass es unmöglich wäre, eine Globalgeschichte des 20. Jahrhunderts zu schreiben und dabei die religiöse Frage auszublenden. Geschichte ist immer auch Religionsgeschichte. Heilsbringer aller Art antworten nicht nur auf allgemeine Herausforderungen, viele von ihnen haben außerordentlichen Einfluss auf Politik, Kultur und Gesellschaft ausgeübt. Dabei werden Zusammenhänge und Parallelen innerhalb einzelner Religionen, aber auch zwischen verschiedenen Religionen und religiösen Bewegungen deutlich. Kein Wunder – waren vielfach doch die gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Herausforderungen, auf die religiöse Persönlichkeiten Antworten gegeben haben, sehr ähnlich.
Bei einigen Heilsbringern mag man sich als Leserin oder Leser wundern, warum Stausberg sie ausgewählt hat, bei anderen mag man fragen, warum sie keine Berücksichtigung gefunden haben. Doch erhebt der Autor ausdrücklich nicht den Anspruch, dass seine Auswahl repräsentativ sei. Er weiß um ihre „Schieflage“. Stausbergs Anliegen ist, exemplarisch die bleibende Lebendigkeit und kreative Kraft des Religiösen aufzuzeigen. Und das ist ihm gelungen.
Stausberg endet mit einem wichtigen Hinweis: „Das Kreativitätspotential des Religionmachens ist im 20. Jahrhundert noch lange nicht ausgeschöpft worden.“ Auch in Zukunft – in einer sich stark verändernden Welt – wird es also Heilsbringerinnen und Heilsbringer geben, große, charismatische Gestalten, die, ja, was genau tun? Der Blick in die Geschichte lässt auch ein wenig nach vorne blicken: Manche bringen oder verkünden den Menschen Heil, wobei Heil äußerst Unterschiedliches bedeuten kann. Andere sind der Heilsfrage gegenüber gleichgültig oder bringen zunächst „Heil“ für sich selbst. Und wieder andere verfolgen eine unheilvolle, unmenschliche Agenda. Der Ausblick lässt daher zugleich hoffen wie fürchten. Sicher bleibt, dass auch im 21. Jahrhundert Religion eine kreative, auf die Wirklichkeit antwortende und zugleich Wirklichkeit schaffende und verändernde Größe bleibt. – Ein wichtiges Buch, in dem sich gut schmökern und die ein oder andere Entdeckung machen lässt.