Die Sicherheit, der ich das Glück meiner frühen Kindheit verdanke, basierte neben der Liebe der Eltern zu uns und zueinander auch auf einem Familien-Katholizismus, der unser Leben in die festen Regeln von Tisch- und Abendgebet, von sonntäglichem Kirchenbesuch und fleischlosen Freitagen zwängte, sonst aber von Person zu Person individuell gefärbt war.“ Das schrieb Günter de Bruyn in seiner „Zwischenbilanz“ (1992).
Katholischsein in der Berliner Diaspora bedeutete für das jüngste von vier Geschwistern, Rückhalt im Glauben zu suchen und sein Leben im „Dritten Reich“ davon imprägnieren zu lassen – etwa durch das Ritual der Gewissenserforschung, „die ein allabendliches Bilanzziehen empfahl. Im Bett, kurz vor dem Einschlafen, sollte ich noch einmal die Geschehnisse des vergangenen Tages an mir vorbeiziehen lassen, mich an mein Handeln und Unterlassen erinnern, um mir klar darüber zu werden, ob mein Verhalten gottwohlgefällig gewesen war oder nicht“ („Das erzählte Ich“, 1995). Anders als etwa sein Schriftstellerkollege Günter Grass, der abfällig „vom katholischen Mief“ redete und später bekannte, als Siebzehnjähriger begeistertes Mitglied der Waffen-SS geworden zu sein, geriet de Bruyn nicht in eine derartige Versuchung.
Aus kindlicher Perspektive schilderte er in dem Buch, wie die Nazi-Diktatur ihre Fesseln zuerst kaum merklich anlegte, ehe sie völlige Unterwerfung verlangte. Das mobilisierte jedoch auch Widerstandskräfte, etwa bei de Bruyns Bruder. Der Ältere – bei ihm standen Franziskus’ „Sonnengesang“, Platons Werke, Guardinis „Geist der Liturgie“ sowie Gedichte von Rilke im Regal – brachte dem Jüngeren die katholisch-bündische Welt nahe. „Karlheinz, der, meiner Erinnerung nach, niemals Launen hatte, niemals ratlos oder albern war, stellte für mich das unerreichbare Vorbild dar. In ihm gelangten die aus Religiosität, Intellekt und Pfadfindertum gemischten Ideale…auch zu mir.“ Im Gottesdienst empfand der junge Günter nie Langeweile: „Zu sehr musste ich darauf achten, beim Aufstehen und Setzen, beim Knien und Kreuzschlagen, Beten und Singen alles richtig zu machen, zu spannend war es, der Liturgie in ihrem Ablauf zu folgen und die vielen fremden Gesichter zu sehen.“
Anders als seine Mitschüler entwickelte der mit Engeln und Heiligen Aufgewachsene eine tiefe Abneigung gegenüber aller Machtanbetung. Was das nach der Zäsur von 1945 bedeutete, stellte der Autor im zweiten Teil seiner Lebensbeschreibung „Vierzig Jahre“ (1996) eindringlich dar. Die beiden autobiografischen Werke schildern die Suche eines Einzelnen, der im Kraftfeld sich überstürzender Ereignisse fragt: Wie reagiert man auf politische Heilsversprechen und totalitäre Bedrohungen? Bietet der Glaube Schutz vor dem Rückfall in die Barbarei? In den von de Bruyn geschilderten „Vierzig Jahren“ zwischen 1949 und 1989 fehlt keines der Ereignisse, die den Osten politisch erschütterten: mangelhafte Entstalinisierung, der Volksaufstand vom Juni 1953, Mauerbau 1961, Prager Frühling 1968 sowie die Proteste gegen die Biermannn-Ausbürgerung 1976 bis hin zum Mauerfall. Dabei geriet der zweifelnd-glaubende de Bruyn immer stärker in die Rolle eines Zeitgenossen im Widerspruch, der zum Beispiel die Annahme des DDR-Nationalpreises verweigerte.
Dass der Nonkonformist darauf beharrte, sich Glaubensfragen und Gewissenszweifel nicht verbieten zu lassen, sondern gesellschaftliche Konflikte mit Witz und Ironie zu benennen, machte ihn seit „Buridans Esel“ (1968) zu einem vielgelesenen, beliebten Autor, verschaffte ihm bei der Zensur jedoch das Markenzeichen, ein „Individualist“ und „Quertreiber“ zu sein. Wahrheitssuche und freies Handeln, so stellte de Bruyn in einem vieldiskutierten Redebeitrag auf dem X. Schriftstellerkongress der DDR 1987 fest, vertragen sich nicht mit Bücherzensur. „Eine Gesellschaft, die Denkverbote erteilt, nährt grundsätzliche Zweifel an ihrer Reformfähigkeit.“ In Landschaften der Lüge, so der Schriftsteller, komme es dagegen darauf an, der Korrumpierung durch die herrschende Macht zu widerstehen und seine Seele durch Wahrheitsliebe und Aufrichtigkeit vor Abstumpfung zu schützen.
Die Zusammenschau von „Ich und „Welt“, so der preußische Katholik in dem Band ,,Das erzählte Ich“, folge ,,bei aller Abkehr von einer religiösen Weltsicht“ noch immer dem Schema des Augustinus, wonach der Sinn des Lebens nur erzählerisch zu vergegenwärtigen sei. Dies ist dem Schriftsteller, der Anfang Oktober im Alter von 93 Jahren gestorben ist, zeit seines Lebens geglückt.