Presseschau zu CoronaRecht auf Überfluss?

Die zweite Welle ist da. Die Corona-Maßnahmen werden wieder verschärft. Partys sind abgesagt, Reisen gestrichen – doch es regt sich immer mehr Widerstand. Natürlich, über die Sinnhaftigkeit einzelner Maßnahmen lässt sich diskutieren. Zwischen den Zeilen zeigt sich aber immer deutlicher das Bild einer Gesellschaft, in welcher der eigene Luxus mehr zählt als das Leben des Nächsten. Eine Presseschau.

Der ältere Mann in Karohemd und Shorts wirft sich gegen den Türsteher. Schubst diesen grob mit beiden Händen, einmal, zweimal, doch der andere bleibt ungerührt stehen. Beim Versuch, sich vorbeizudrängen, fällt der Mann schließlich hin und wälzt sich auf dem Boden. Was klingt wie eine Szene aus einem Katastrophenfilm oder einem Versorgungsengpass im Kriegsgebiet, spielt sich vor einem Walmart im idyllischen Orlando, Florida, ab. Der ältere Mann versucht, sich ohne Mund-Nasen-Schutz Zutritt zum Supermarkt zu verschaffen – dass eine Maskenpflicht herrscht, will er nicht hören. Der kurze Video-Clip machte online die Runde. Auf Twitter, Facebook und Youtube verfolgten Hunderttausende den erfolglosen Kampf des Amerikaners gegen die Corona-Maßnahmen. Die einen feierten ihn als Helden, als Rebellen gegen die als ungerecht empfundenen Einschränkungen, die anderen amüsierten sich über den älteren Herrn, der sich so kindisch-trotzig über alle Regeln hinwegsetzen will. Doch vielleicht steht dieser Mann, der ganz allein gegen einen Walmart-Mitarbeiter und gegen jede Vernunft anstürmt, nur um endlich wieder wie früher shoppen zu können, auch für eine größere Entwicklung.

Der Staat ist wieder da

Es zeichnet sich schon länger ab, dass die Stimmung bezüglich der Corona-Maßnahmen kippen könnte. War es bisher nur eine kleine – aber immer lautstarke – Minderheit, die sich demonstrativ über Vorschriften hinwegsetzte, Corona-Partys feierte und jede Reise-Warnung in den Wind schlug, scheint der Widerwille gegen die neu verkündeten Einschränkungen inzwischen weiter um sich zu greifen. Auch wer sich bisher brav an alle Regeln gehalten hat, wird jetzt, ein knappes Dreivierteljahr nach Beginn der Krise, oft leichtsinnig. „Feiern, bis der Arzt kommt?“, titelte die „Zeit“ dazu. Chefredakteur Giovanni di Lorenzo warnt vor Bürgern, „die zunehmend verunsichert sind oder sich in all ihren Vorurteilen bestätigt fühlen, eine gezielt geschürte Angst werde benutzt, um ihnen die Freiheit zu rauben“. Dabei müssen die „Bonsai-Rebellen, die in Lokalen falsche Daten angeben“ oder ohne Maske erwischt werden, hierzulande mit verhältnismäßig geringen Strafen rechnen. Der Staat, so scheint es, hält sich mit seiner exekutiven Macht noch sehr zurück und setzt auf das Verständnis und die Vernunft seiner Bürger.

Dabei kommt dem Staat, der Nation, in Zeiten der Krise eine zentrale Rolle zu, die er kaum mehr gewohnt ist. „Während überstaatliche Gebilde wie die Europäische Union weitgehend ausfielen und längst zu den großen Verlierern gezählt werden…richten sich reflexhaft alle Blicke zunächst auf den Staat“, schreibt der Rechtswissenschaftler Uwe Volkmann in der Monatszeitschrift „Merkur“. Und in Anlehnung an den berühmten Ausspruch des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde vom freiheitlichen Staat, der von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, stellt er fest: In der akuten Gefahrensituation trägt der Staat „sich selbst“. Jenseits von föderalistischem Zuständigkeitsgerangel liegt es zuallererst an ihm, in Abstimmung und Abwägung mit Fachleuten klare Regeln aufzustellen und durchzusetzen. In einzelnen Punkten wie dem Hin und Her um das umstrittene und in vielen Fällen nicht nachvollziehbare Beherbergungsverbot zeigt sich zwar, dass auch die Regierung sich manchmal schwertut, die Grenzen des Zumutbaren und Vernünftigen auszuloten. Trotzdem gilt: „Wo es um den Schutz des nackten Lebens geht, ist der Staat nun wieder da und vor allem anderen gefordert, und zwar als das, was er von Anfang an war, der Garant der Sicherheit seiner Bürger.“

Die Ich-Perspektive

Ganz anders klingt das in der „Welt“. Chefredakteur Ulf Poschardt sieht in den Corona-Beschränkungen einen staatlichen „Kontroll- und Überwachungsfetisch“ am Werk. Die im Lauf des Monats diskutierten Reisebeschränkungen „setzen den autoritären Gesten beim Umgang mit der Krise eine weitere Krone auf… Die stoische Hinnahme der Einschränkung fundamentaler Freiheitsrechte hat ein Ausmaß angenommen, das schockierend ist.“ Dabei darf auch ein Seitenhieb gegen die Virologen nicht fehlen, die seit Monaten versuchen, die Bevölkerung auf simple Hygieneregeln einzuschwören: „Eine unselige Rolle spielt eine neue Wissenschaftsgläubigkeit, die von eitlen Naturwissenschaftlern bedient wird.“ Das sind Argumente, wie man sie normalerweise aus der Klimaschutzdebatte kennt. Auch hier muss der Verzicht auf lieb gewonnenen Luxus und Reisefreiheit gegen das Leben von vielen abgewogen werden – nicht nur zukünftiger Generationen, sondern auch der Bewohner der von Überschwemmung oder Trockenheit bedrohten Regionen, die schon heute unter den direkten Folgen des Klimawandels zu leiden haben. Und auch hier zieht das Leid der anderen häufig den Kürzeren gegen die eigene Bequemlichkeit.

Der Münsteraner Philosoph Jörg Phil Friedrich wird in seinem „Welt“-Artikel grundsätzlicher: „Die Maßnahmen zur Bewältigung der Krise sind es erst, die uns die Krise spürbar machen. Sie kommen zunächst in staatlichen Geboten und Verboten zum Ausdruck, die dann tatsächlich in den Alltag eingreifen. Es ist das Leben mit diesen Vorschriften und den Einschränkungen, die daraus entstehen, was wir als reale Krise erleben.“ So sollte man auch „Verständnis haben für die, die die Vorschriften und Maßnahmen zur Krisenbewältigung nicht einfach hinnehmen wollen“. Immerhin: „Die meisten von uns kennen infizierte Personen nur ‚über drei Ecken‘, von ernsthaft Erkrankten oder gar Todesopfern gar nicht zu reden.“ Dass diese Tatsache gerade ein Verdienst der vielen ist, die sich an die Maßnahmen und Einschränkungen halten, und in einigen Nachbarländern, wie Italien, in manchen Regionen ganz anders aussieht, wird nicht erwähnt.

Auf die Gefahr, die Pandemie wegen der hierzulande noch immer relativ geringen Todeszahlen zu unterschätzen, macht auch der Wissenschaftsjournalist Joachim Müller-Jung in einem Kommentar in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ aufmerksam. „Wer meint, der gefühlte Lockdown (Ausgangssperre) komme daher, dass Unwissenheit und Maßnahmen-Chaos die Politik leiten, ignoriert alles bisher Erreichte. Vielmehr gilt: Nicht das Virus bestimmt, wann die Rückkehr zur Normalität endlich möglich wird… Viel entscheidender sind weiterhin die Bürger und deren Verhältnis zu den Corona-Regeln.“ Wer jetzt glaubt, eine „Scheinnormalität müsse erzwungen werden“, in der man auf keine der zahllosen Annehmlichkeiten des Lebens verzichten muss, nach Herzenslust reisen und feiern kann, gefährde nicht nur seine Mitmenschen, sondern setze die monatelangen Bemühungen von Politik und Bevölkerung aufs Spiel, das Virus im Zaum zu halten.

Wie werden wir zurückschauen?

Vielleicht fasst die „taz“ die Stimmung am besten zusammen, wenn sie von einem „ultraindividualistischen Liberalismussound“ spricht, der langsam, aber sicher die Solidarität verdrängt, die die erste Zeit der gemeinsamen Krise geprägt hatte. Es gebe einen „aggressiven Liberalismus“, schreibt der Medienjournalist Peter Weissenburger, einen Liberalismus, „der nicht fragt, was man selbst tun kann, um Not zu lindern. Sondern der darauf besteht, dass man tun dürfen muss, was immer man tun dürfen will. Der das Verbot um seinetwillen bekämpft – mit einem inhaltsleeren Freiheitsbegriff: Ich will tun, was immer man mir verwehrt.“

Dass Weissenburger dabei auch die Systemfrage stellt, das „Quäntchen modernen, menschlichen Sozialismus, der bisweilen zu spüren war“, dem auf Dauerkonsum getrimmten Kapitalismus entgegenstellt, ist vielleicht nicht zu hoch gegriffen. Denn in der Krise zeigt sich wieder einmal, dass sich der Traum vom ewigen, ungebremsten „Weiter-so“ nicht erfüllen kann. Ein elektronenmikroskopisch kleines Virus führt uns an die berühmten „Grenzen des Wachstums“, die bisher eher mit globalen Großereignissen wie Klimawandel und Ressourcenknappheit verknüpft waren. Egal mit welchen Tricks der Aktienindex wieder nach oben getrieben wird oder wie viel Geld in den europäischen Markt gespült wird: Am Ende steht die Frage, ob der unbeschwerte Alltag, die aufwendige Geburtstagsparty oder der Herbsturlaub wichtiger sind als die Sicherheit und Gesundheit der Risikogruppen, zu denen immerhin vierzig Prozent der Deutschen gehören. Ob es ein Recht auf Bequemlichkeit, auf Überfluss geben kann. Das ist eine Frage, die die große Politik verhandeln muss. Sie betrifft aber auch jeden Einzelnen. In einer Welt, in der jeder nur an sich denkt, ist eben nicht an alle gedacht.

Obwohl sich auch nach einem Dreivierteljahr Corona noch kein Ende abzeichnet, steht doch fest: Die Krise wird irgendwann überwunden sein. Forscherteams arbeiten rund um die Welt daran, dass wir zu unserem Alltagsleben zurückkehren können, Tag für Tag gibt es neue Erkenntnisse, die helfen können, das Virus unschädlich zu machen. Es liegt jetzt an jedem Einzelnen, wie wir auf diese schwerste Pandemie einer Generation zurückblicken werden. Als Zeit der Askese, der – auch schmerzhaften – Opfer, des Verzichts, die gemeinsam durchgestanden wurde, in der es aber auch gelang, die Schwächsten zu schützen und zu neuen Formen der Solidarität zu finden? Oder als die Zeit, in der sich Menschen mit Walmart-Mitarbeitern prügelten, um ohne Maske einkaufen zu können?

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