Der letzte Satz verspielt viel von dem, was auf über 160 Seiten zuvor erreicht wurde. „Ändern kann ich die Hirten nicht. Aber ärgern“, schreibt Christiane Florin am Ende dieses Buchs, das viel über die katholische Kirche zum Ausdruck bringt und mehr noch über diejenigen, die Anstoß an ihr nehmen – und zwar nicht mit einem kühlen Blick „von außen“ und auch nicht in einer theologisch-intellektuellen Perspektive, sondern aus dem Zentrum heraus und nach Jahrzehnten einer tief prägenden katholischen Sozialisation. Die Gefahr solch engagierter Kritik liegt jedoch darin, sich die Themen geradezu aufzwingen zu lassen. „Katholisch – das war von Kindheit an auch ein verstörendes Gemisch aus Schuld und Sex, Macht und Keuschheit“, erklärt die Autorin und arbeitet sich dann an jedem einzelnen dieser Themen ab.
Der rote Faden durch die insgesamt zehn Kapitel ist das Bild vom Hirten und der Herde – eine gute Wahl, denn daran lässt sich trefflich zeigen, dass manche Hirten und Oberhirten diese biblische Metapher allzu wörtlich verstehen. Sie treten ihrer Herde mit einer Arroganz der Macht gegenüber, nehmen ihre Schafe keinesfalls als Partner auf Augenhöhe wahr. Dieser Vorbehalt gegenüber der prinzipiellen Gleichheit, die ja eine Selbstverständlichkeit in einer aufgeklärt-säkularen Gesellschaft ist, hat für diese Hirten entgegen ihren Behauptungen nichts mit theologischem Verständnis biblischer Texte oder mit einem tiefreligiösen Vertrauen auf Gott zu tun – sondern schlicht und ergreifend mit ihrem Amt.
Die scheinbare Erhabenheit des Amtes gegenüber jeglicher Kritik – ein offenbares Relikt aus der Vormoderne, das man als kurios betrachten könnte, wenn es nicht die Zukunft der Kirche beschädigte – hat sogar eine solche Strahlkraft, dass selbst Katholiken, die nicht über dieses Amt verfügen, Kritik an ihm als Majestätsbeleidigung empfinden, oder – ist das besser? – als Symptom eines psychischen Defekts: Anschaulich schildert Christiane Florin diesen Mechanismus einer verordneten Harmonie, die das Gegenteil von Streitkultur ist. Innerhalb der katholischen Kirche werde dem Gegenüber gar nicht erst zugetraut, „dass Wahrheitssuche und Gerechtigkeitssinn relevante Gründe für eine Recherche sein könnten… Katholische Kontroversen werden sofort persönlich. Sie stecken voller naturalistischer, biografischer und genetischer Fehlschlüsse: Wer sich für Gleichberechtigung von Homosexuellen einsetzt, muss selbst homosexuell sein. Wer die Kommunion für wiederverheiratete Geschiedene richtig findet, muss vor den Trümmern seiner eigenen Ehe stehen. Wer zum Thema sexualisierte Gewalt recherchiert, muss selbst ein Opfer sein.“
Mechanismen einer Hierarchie
Natürlich hat das „erhabene“ Amtsverständnis viel mit Macht und Machtbewusstsein zu tun – und mit Machtmissbrauch. Der findet bereits statt, wenn sich „das Amt“ für alles als zuständig erklärt („Welche Sexualität zwischen Erwachsenen erlaubt und welche verboten ist, haben Kirchenrecht und Kirchenlehre detailverliebt geregelt“), und nicht erst dann, wenn es zu konkreten Sexualvergehen von Amtsträgern kommt (hier wäre übrigens Gelegenheit, über den schönfärberischen und vielsagenden Begriff „Missbrauch“ nachzudenken: Als ob das Sexualvergehen nur eine Art Fehltritt dessen wäre, der andere Menschen eben nicht als gleichrangiges Gegenüber, sondern als zu gebrauchendes Werkzeug für sein eigenes Wirken betrachtet). Überzeugend ist Florins Fazit, wenn sie das Thema der „obsessiven Beschäftigung katholischer Amtsträger mit dem Unterleib anderer“ amüsant-lakonisch resümiert: „Die Goldene Regel und der Rechtsstaat dürften tragfähiger sein als das goldgesäumte päpstliche Geschlechtsreglement.“
Analytisch klar und schneidend scharf wird ihre Kritik indes unter der Kapitelüberschrift „Macht gibt es nicht. Im Reich der Bescheidenheitsbrutalität“. Mit Max Webers Definition von Macht, die keine feste Größe sei, sondern ein Geschehen, und die notwendigerweise eine soziale Asymmetrie voraussetzt, bei der der Inhaber von Macht seinen Willen auch gegen das Widerstreben seines Gegenübers durchsetzt, analysiert Christiane Florin die Mechanismen einer Hierarchie, welche Gehorsam gar nicht einzufordern oder gar zu erzwingen brauche: „Sie bekommen ihn oft vorauseilend.“ Und ebenso überzeugend macht die Autorin deutlich, dass und wie sich diese unausgesprochenen Machtstrukturen seit dem späten 19. Jahrhundert in Abwehr der zunehmenden Säkularisierung letztlich parallel zu sehr weltlichen Ideologien entwickelten. Hier wäre Gelegenheit gewesen, auf die seinerzeit durch Papst Benedikt XVI. angestoßene Entweltlichungsdebatte einzugehen, die ja auf dem Jesus-Wort „Bei euch aber soll es nicht so sein!“ (Mk 10,43) fußt – der deutlichsten Absage an Gehorsam gegenüber denen, die die Macht haben.
Gleichzeitig gilt es, sich immer wieder zu vergegenwärtigen, dass der Wesenskern der Katholizität ja nicht in der institutionellen Macht und auch nicht im Einverständnis mit der Doktrin liegt, sondern in der Möglichkeit einer universalisierbaren Gotteserfahrung. Diese wird in der Tat oft genug getrübt durch kleine und große Skandale einiger derer, die sich als die Hüter eben dieser Katholizität verstehen. Kann man, soll man da trotzdem katholisch bleiben? Selbstverständlich! Und man sollte sich gleichzeitig vor Augen führen, dass nur in Deutschland diese Frage mit der Steuererklärung verbunden ist. Ein Italiener oder eine Französin kann sich die Frage des Katholisch-Bleibens wesentlich gelassener stellen – sicherlich auch mit mehr Distanz zu den skurrilen Machenschaften mancher „Hirten“.
Es gibt also viele gute Gründe, katholisch zu bleiben – nicht zuletzt den, katholisches Denken und Fühlen vor üblen Machenschaften zu retten. Aber „die Hirten zu ärgern“ gehört sicherlich nicht zu diesen Gründen, denn dies führt womöglich letztlich nur dazu, vor allem sich selbst zu ärgern über vieles, was unverständlich und ärgerlich ist. Christiane Florin hat der kritischen Auseinandersetzung mit der Institution Kirche eine starke Stimme gegeben – überzeugend werden solche Stimmen vor allem dann, wenn sie im Vertrauen auf die aufgeklärte Autonomie die Absurdität der Forderung von Gehorsam zeigen: Ein Glaube, der befreit, braucht die Hierarchie nicht und darf sie glücklich ignorieren.