Nein, eine Wahlprognose wird es hier nicht geben. Zu frisch ist noch die Erinnerung, wie sich bei der letzten US-Präsidentschaftswahl nahezu alle Meinungsforscher und „Amerika-Experten“ blamiert haben. Sie feierten Hillary Clinton schon Wochen vor der Wahl als Siegerin, bis dann – bekanntlich – alles anders kam. Allerdings haben sich auch viele der Schreckensszenarien nicht erfüllt, die nach der Wahl durch die Medien geisterten. Auch unter einem Präsidenten Trump gab es keinen dritten Weltkrieg. Die diplomatischen Beziehungen kühlten zwar ab, aber sie hielten. Anscheinend sitzen noch immer genug vernünftige Menschen in den Schaltzentralen der Macht, dass sich Schlimmeres verhindern lässt, auch wenn im Weißen Haus ein unberechenbarer Hitzkopf nach Lust und Laune regiert. Das ist die gute Nachricht. Doch so wie die Welt nicht untergeht, nur weil Donald Trump am Ruder ist, werden auch nicht alle Probleme verschwinden, falls der nächste Präsident Joe Biden heißt.
Die Supermacht Amerika zeigt sich so gespalten wie selten in ihrer Geschichte. Es sind die altbekannten Trennlinien – weiß gegen schwarz, arm gegen reich, liberal gegen konservativ –, entlang derer immer wieder Konflikte aufflammen. Verschärft durch die Jahrhundertpandemie Corona, die nicht nur den Tod, sondern auch wirtschaftliche Einbrüche bringt, werden die Gräben immer tiefer. Inzwischen ziehen sie sich durch Nachbarschaften, durch Wohnblocks, durch Familien. Auch auf unserer Seite des Atlantiks verschärft sich der Ton merklich, das Lager-Denken nimmt zu. Hinzu kommen die sozialen Netzwerke, in denen sich für jede absurde Theorie genug finden, die sie teilen. Je tiefer man in dunkle Internet-Subkulturen vordringt, desto leichter fällt es, Feindbilder aufzubauen. Und desto eher verirrt man sich in Fantasiewelten, in denen anscheinend alle der gleichen Meinung sind – und fällt aus allen Wolken, wenn zum Beispiel die Wahl dann doch anders ausgeht.
Das Problem, dass sich an politischen Personalfragen Konflikte entzünden, die schon lange im Verborgenen schwelen, ist allerdings deutlich älter als die sozialen Medien. Deutlich älter auch als unsere Vorstellung von Demokratie. Bei einer der frühesten „Wahlen“ in der Bibel wird Saul zum König über Israel gemacht – und sofort ist sein Volk entzweit. „Es lebe der König!“, rufen die einen. „Was soll der uns helfen?“, fragen die anderen. „Und sie verachteten ihn und brachten ihm kein Geschenk“ (1 Sam 10, 24–27). Es folgen Intrigen, Bürgerkrieg, Chaos. Das Reich steht kurz vor dem Zerfall, als David die Herrschaft übernimmt. Und auch der fällt vor Gott in Ungnade. Vielleicht eine überfällige Warnung gegen die Überhöhung von politischen Führungsfiguren. Am Ende zählt, dass wir als Gesellschaft zusammenhalten können – nicht wer gerade auf dem Thron sitzt.