Im Schatten der zweiten Corona-Welle regt sich eine Bedrohung, die in den letzten Monaten weitgehend aus den Schlagzeilen verdrängt war: der islamistische Terror. Europa sieht sich einer Serie von Anschlägen ausgesetzt, die sich in vielem unterscheiden, aber immer nach ähnlichem Muster ablaufen. Nahe Paris wird ein Lehrer ermordet, weil er Mohammed-Karikaturen gezeigt hat; in Nizza attackiert ein Mann Kirchenbesucher mit einem Messer und tötet drei Menschen; in Wien werden an mehreren Tatorten wahllos Passanten angegriffen, mindestens vier sterben. „Jeder Anschlag wirkt wie ein Déjà-vu“, so der „Deutschlandfunk“. „Der Terror lässt für Trauer kaum Zeit.“ Dahinter steckt System. Der Terrorismus-Experte am Französischen Institut für Internationale Beziehungen Marc Hecker spricht im „Weser Kurier“ von einer „Strategie der tausend Nadelstiche“, mit der die westliche Welt ins Chaos gestürzt werden soll. Ziel sei es, „eine Reaktion der Behörden wie auch Gegenangriffe gegen Muslime zu provozieren, um eine Eskalationsspirale zu erreichen. Terrorakte werden oft in Wellen verübt, auch aus Nachahmung und gefördert durch die sozialen Netzwerke.“
Tatsächlich scheint das Internet eine Schlüsselrolle bei zahlreichen Anschlägen zu spielen. Der „Spiegel“ warnt vor radikalen „YouTube-Akademien, in denen Attentäter gezüchtet werden“. Auch der Politologe Hans Stark sieht in Onlineforen einen Nährboden des Terrorismus. Junge, unzufriedene Menschen würden mitunter so „radikalisiert durch das Internet, dass sie sich gezielte Objekte suchen und die angreifen“, sagt er im „Deutschlandfunk“. Und während hohe muslimische Autoritäten wie der Kronprinz von Abu Dhabi oder der Außenminister der Vereinigten Arabischen Emirate die Anschläge aufs Schärfste verurteilen, seien die Täter meist „eher einsame Wölfe, die alleine agieren, die sich selbst radikalisieren und dann zugreifen“. Übergeordnete Terror-Netzwerke spielten bei einzelnen Taten damit eine geringe Rolle – was die Überwachung erschwert und die Angriffe weniger berechenbar macht.
Dass ein klares Feindbild, ein einzelner islamistischer Strippenzieher hinter den Anschlägen fehlt, ist vielleicht auch ein Grund für die gelegentliche Umkehr der Täter-Opfer-Verhältnisse. Hierbei wird die westliche Welt für den Terrorismus verantworlich gemacht. Solche Töne mischen sich immer wieder in die Debatte, wie die „Neue Zürcher Zeitung“ kritisiert. Besonders das laizistische Frankreich musste sich anhören, „die strenge Trennung von Staat und Kirche demütige junge Muslime und spiele Fanatikern in die Hände“. Ist man am Ende selbst schuld an gewalttätigen Reaktionen, wenn man Religion einen so geringen Platz im öffentlichen Leben einräumt, wenn man zulässt, dass Karikaturen verbreitet werden, die fromme Gefühle verletzen? „Man kennt solche Argumente aus der Debatte über sexuelle Gewalt“, in der auch manchmal nach „Fehlern“ im Verhalten der Opfer gesucht wird. Den Terror zum Anlass zu nehmen, um über eine Einschränkung der Meinungsfreiheit nachzudenken, wäre „ein Kniefall vor den Feinden der offenen Gesellschaft“.