Es ist schon erstaunlich, wie wenig es brauchte, um dieses „Fass“ wieder aufzumachen. Dominik Terstriep, ein jüngerer Jesuit, vor zwanzig Jahren zum Priester geweiht, schrieb einen Artikel in der Zeitschrift „Stimmen der Zeit“. All die historischen Auseinandersetzungen um die Gebetsrichtung im Gottesdienst kennt er natürlich – aber nur aus der Literatur. Das lässt ihn, ausgehend von den eigenen Erfahrungen, ganz unbefangen an das Thema herangehen, „ohne ideologische Scheuklappen“, wie er es formuliert.
In dem Beitrag regt Terstriep die Wiedergewinnung der früheren Gebetsrichtung in der Eucharistie an: „Der Priester soll nicht vor der Gemeinde beten, die auf ihn schaut, sondern mit ihr und für sie. Wäre es nicht konsequent, dass er sich in dieselbe Richtung wendet wie die Gemeinde?“ Dadurch würde der Priester zudem „besser in die betende Gemeinde integriert, die zusammen mit ihm vor Gott steht“. Schließlich ist er ja „nicht nur für die Gemeinde Priester, sondern auch mit ihr Christ“. Vor allem aber könne das „gleichgerichtete Gebet“ besser zeigen, „wohin sich das kirchliche Leben zuallererst richtet: zum dreifaltigen Gott.“ Bei all dem, das betont Terstriep mehrfach, geht es ihm keineswegs darum, zur tridentinischen Liturgie zurückzukehren.
Die Reaktionen auf den Vorschlag waren gewaltig. Auch CHRIST IN DER GEGENWART, wo der Artikel Terstrieps kurz zusammengefasst war (Nr. 41, S.455), erhielt viele Leserbriefe. Darin gab es durchaus Zustimmung für den Impuls. Die gemeinsame Gebetsrichtung von Priester und Gemeinde mache deutlich, dass man zusammen als pilgerndes Volk Gottes unterwegs ist. „Und das geht nunmal in ein und dieselbe Richtung“, schreibt ein Priester aus der Oberpfalz. Sie empfinde den Gedanken „stimmig und authentisch“, pflichtet eine Frau aus dem Münsterland bei. Auf diese Weise werde deutlicher, dass sich alle Gebete an Gott richten. Andernfalls könne allzu leicht das Missverständnis aufkommen, „als würden die Priester selbst die Huldigung entgegennehmen“.
Die weitaus überwiegende Zahl der Rückmeldungen war jedoch ablehnend. Er empfinde die Zelebration mit dem Rücken zum Volk als „lieblos, autoritär und klerikalistisch“, sagt ein hoher Geistlicher aus dem Ostwestfälischen. Heißt es nicht in der Schrift (Mt 18,20), dass Christus „mitten“ unter seinen Jüngerinnen und Jüngern ist, wenn die sich versammeln? Sollten die dann nicht genau dies in ihrer Versammlung nachbilden?
Worauf wir schauen
Eine Religionspädagogin aus Nordrhein-Westfalen sieht in der gemeinsamen Gebetsrichtung vor allem einen Spiegel der kirchlichen Hierarchie. „Nicht Christus steht im Zentrum, sondern der Zelebrant.“ Ein Pfarrer aus der Steiermark argumentiert: „In einer Richtung zu feiern, der Priester ‚mit dem Rücken zum Volk‘, erinnert an ein Gottesbild, in dem Gott der Ferne ist, aus unserer Welt hinausprojeziert in die Unendlichkeit des Weltalls. Die Gläubigen ‚in Reih und Glied‘ dahinter erscheinen als das streitende Gottesvolk. Das ist nicht mein Gottes- und Kirchenbild.“
Er sei sich bewusst, dass das Thema „leicht zum Zankapfel“ werden könne, hatte Dominik Terstriep in seinem Artikel geschrieben. Aber ist es nicht verwunderlich, dass es derart die Gemüter erregt? Dass es regelrecht polarisiert – und das selbst in diesen Zeiten, in denen es auf den ersten Blick doch auch kirchlich drängendere Themen gibt? Vermittelnde Stimmen sind jedenfalls auch beim CIG-Leserecho eher wenige zu vernehmen. Eine steuert ein Priester und Publizist aus Köln bei, der für eine differenzierte Sicht und ein echtes, gleichberechtigtes Nebeneinander beider Gebetsrichtungen wirbt: „Ich zelebriere gerne mit den Menschen um den Altar versammelt – in einer annehmbar gefüllten großen Kirche und in einer Kapelle mit wenigen Menschen.“ In einer anderen Raumsituation würde er aber „problemlos“ auch die gemeinsame Gebetsrichtung mit der Gemeinde einnehmen können. „Letzteres ist jedoch in kaum einem umgestalteten Kirchenraum mehr möglich und schwer zu vermitteln, ohne gleich in eine bestimmte Ecke gestellt zu werden.“
Oft kann die Emotionalität in einer Debatte ein Hinweis darauf sein, dass da etwas mit Macht an die Oberfläche drängt, was nicht richtig bearbeitet, geschweige denn befriedet wurde. Das scheint auch hier der Fall zu sein. Denn die Frage der Gebetsrichtung ist mehr als ein liturgisches Rand-Thema. Sie ist zugleich ein kirchenpolitisches Statement. Kurz gesagt: Wer sich für das „gleichgerichtete Gebet“ (Terstriep) ausspricht, gilt als konservativ, wenn nicht gar als vorkonziliar und reaktionär. Eine zeitgemäße Liturgie, so die gängige Meinung, kann es nur geben, wenn der Priester der Gemeinde – im doppelten Sinne – zugewandt ist.
Dass diese Auffassung so verbreitet ist, lässt sich erklären. Das Zweite Vatikanische Konzil, das ja in vielen Bereichen den damaligen Reformstau in der Kirche auflöste, brachte auch für die Feier des Gottesdienstes deutlich spürbare Veränderungen, stieß diese zumindest an. Ihre auffälligsten Erkennungszeichen sind die Verwendung der jeweiligen Volkssprache statt des Lateinischen und eben die neue Gebetsrichtung des Vorstehers versus populum – zum Volk hin. Beides hat sich schnell und fast überall durchgesetzt, manchmal auch in einer gewissen Eigendynamik.
Wie es das beliebte Taizé macht
Eine differenzierte Bilanz dieser Entwicklung zog man nie. Sie wurde zuletzt dadurch unmöglich, dass 2007 der damalige Papst Benedikt XVI. die sogenannte tridentinische Liturgie wieder umfassend zuließ. Seither hat sich die jeweilige kirchenpolitische Etikettierung der früheren, jetzt „außerordentlichen“, beziehungsweise der neuen, regulären Feierform eher noch verfestigt. Denn die „Liebhaber“ der sogenannten alten Messfeier mögen im Einzelfall ganz unterschiedliche Gründe vorbringen – zumeist wird die größere Feierlichkeit genannt, die ars celebrandi, also die formvollendete „Kunst“, Gottesdienst zu feiern. Doch man tut ihnen sicher nicht Unrecht, wenn man sie auch als eher konservativ-traditionalistisch bezeichnet.
Doch allein schon eine Gemeinschaft wie etwa die von Taizé macht deutlich, dass diese Zuschreibung nicht immer zutrifft. Sind denn die Brüder konservativ, weil sie in dieselbe Richtung wie ihre meist jugendliche Gemeinde beten (vgl. unser Bild auf Seite 525)? Würde man auch bei ihnen kritisieren, dass sie ihren Mitbetern „den Rücken zukehren“? Ist Taizé attraktiv, obwohl oder weil dort genau auf diese Art und Weise gebetet wird?
Bereits dieses Beispiel zeigt, dass das Thema nicht ausdiskutiert ist. Es gilt wohl nach wie vor, was die Herausgeber eines liturgischen Fachbuchs („Römische Messe und Liturgie in der Moderne“, Verlag Herder, Freiburg) bereits 2013 schrieben: dass die Verfechter der neuen und der früheren Feierform allenfalls übereinander, aber nicht miteinander reden. Selbst im Bereich der Theologie. „Auch auf akademischer Ebene sind in den vergangenen Jahren ein gegenseitiger Erfahrungsaustausch und eine wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung selten geblieben.“
So langsam scheint sich das zu ändern. Dominik Terstriep hat die Gebetsrichtung angesprochen, weil er Sorge hat, dass von unseren Gottesdienstgemeinden allzu oft das Bild einer „geschlossenen Gesellschaft“ ausgeht, „einer Gemeinschaft, die vor allem sich selbst feiert“. Bei einer Münchener Tagung über „Gottesdienst und Macht“ (vgl. CIG Nr. 45, S. 503) kam das Thema im Zusammenhang von Liturgie und Klerikalismus auf. Dabei wurde herausgearbeitet, dass es durchaus unterschiedliche Auffassungen davon gibt, welche Gebetsrichtung des Priesters diesen zu sehr in den Mittelpunkt stellen könnte. Ist es die, bei der er dem Volk „den Rücken zukehrt“? Oder doch vielleicht eher die, bei der er als vermeintliche Hauptperson handelt und sich dem Volk wie auf einer Bühne präsentiert (im schlimmsten Fall fast schon konfrontativ)? Birgt womöglich gerade die Richtung des Priesters zum Volk hin die Gefahr des Klerikalismus? Man müsse jedenfalls darüber hinauskommen, das gleichgerichtete Gebet sofort als problematisch und reaktionär zu betrachten, erklärte die altkatholische Priesterin und Liturgiewissenschaftlerin Angela Berlis.
Auch Stephan Winter spricht sich dafür aus, unideologisch auf die Frage zu blicken. Der Tübinger Professor für Liturgiewissenschaft verweist darauf, dass sich zwar laut der vorhandenen Zeugnisse in nahezu der gesamten Alten Kirche letztlich der Grundsatz weitgehend durchgesetzt hat, den Osten als Gebetsrichtung zu priorisieren. Die Alternative, sich gemäß jüdischer Sitte nach Jerusalem zu wenden, wurde so wohl ab dem zweiten Jahrhundert endgültig abgelöst. Während jüdisch die Ankunft des Messias in Jerusalem erwartet wird, war und ist die Sonne beziehungsweise der Morgenstern aus christlicher Sicht das starke Symbol für den auferstandenen und wiederkehrenden Christus. Eine andere Frage sei aber, was das regional und lokal für die Gestaltung und Nutzung von konkreten Kirchenräumen bedeutet hat. Da dürfte es unterschiedliche Varianten gegeben haben. Fragen stellen sich wie: Wo war der Vorsteher des Gottesdienstes? Wie verhielt er sich? Wie war der Altar platziert?… Durchs Mittelalter hindurch hatten Kirchenräume dann oft eine Vielzahl von Feier- und Devotionsorten. Es gab hier schon deshalb nicht die eine Gebetsrichtung. Die Menschen wandten sich mal hierhin, mal dorthin. Erst mit der Gegenreformation änderte sich das. Der „tridentinische“ Kirchenraum diente einzig der Konzentration der Gläubigen auf den Hochaltar und das eucharistische Geschehen.
„Eine Patentlösung gibt es nicht“, stellt Stephan Winter mit Blick auf die heutige Situation klar. Denkbar sei die gemeinsame Gebetsrichtung, die Versammlung um den Altar, auch das Konzept der „leeren Mitte“ als Verweis auf Gottes Transzendenz… Klar ist: Die Gemeinschaft und deren Bezug auf Gott soll erfahrbar werden, zugleich müssten die besonderen liturgischen Dienste erkennbar sein. Wie das am besten deutlich wird, hängt von den örtlichen Gegebenheiten ab. Vielleicht ist es ja manchmal auch einfach die gemeinsame Orantenhaltung, also die Arme betend nach oben zu erheben, wodurch gut die „Orient“-ierung ausgedrückt wird? „Aufgefahren in den Himmel“, beten wir. So könnte sich auch der Blick zu Gott und Christus himmelwärts richten. Angesichts dieser verschiedenen Modelle spricht sich Stephan Winter dafür aus, Varianten vor Ort durchzusprechen, zu erklären – und auszuprobieren.
Ist es nicht bei vielen Entwicklungen so, dass sie wie bei einem Pendelschlag verlaufen? In der Euphorie über das Neue, Befreiende schießt man womöglich über das Ziel hinaus. Als Reaktion darauf gibt es die gegenläufige Entwicklung, den Backlash, wie es auf Neudeutsch heißt. Und dann? Überwindet man bestenfalls die Frontstellung und kommt zu etwas Drittem?