Krisen werfen die Sinnfrage auf. Bleibt eine erträgliche Antwort aus, verstärken sich die Krisensymptome. Ein Schuldiger muss gefunden werden. Am einfachsten: Gott! Wie kann er solches Leid zulassen? Diese sogenannte Theodizee-Frage ist ein Menschheitsthema. Jede Generation ringt neu um eine Antwort. Am Leid entscheidet sich das Menschsein, im Umgang mit den Leidenden und in der Annahme des Leids, ohne sich ihm zu ergeben. Annehmen aber bedeutet, mit der Herausforderung umgehen lernen und sie, wenn möglich, zum Guten wenden.
Unzählige Menschen aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft, den Kirchengemeinden und der Bevölkerung versuchen, die gegenwärtige Corona-Pandemie zu bewältigen und das Leid abzumildern. Spirituelles Rüstzeug bietet dieser Sammelband, den der Theologe Martin W. Ramb und der Philosoph Holger Zaborowski herausgegeben haben. Sie öffnen darin die geistliche Schatztruhe der katholischen Tradition und versammeln Kreuzweg-Meditationen namhafter Theologen und Theologinnen. Fotos aus dem Corona-Alltag begleiten die Beiträge. Bild und Text „treten dabei in das Spannungsverhältnis von Darstellung und Deutungsgebot“, wie der Vorsitzende des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Thomas Sternberg, in seinem Geleitwort erklärt.
Den vierzehn traditionellen Kreuzweg-Stationen, denen die einzelnen Meditationen folgen, gehen „Die Geißelung“ von Gotthard Fuchs und „Die Dornenkrönung“ von Ursula Nothelle-Wildfeuer voraus. Fuchs stellt klar: „Das vorhandene Leid wird nicht weggezaubert, es wird auch nicht verklärt, es wird in der Gemeinschaft mit Jesu Passion durchgeschmerzt und so verwandelt.“ Wie theologisch abwegig, aber bis heute verbreitet der Gedanke ist, Corona sei eine Strafe Gottes oder zumindest seine „Pädagogik“, die Menschen zu bessern, verdeutlicht Ursula Nothelle-Wildfeuer.
Gedanken zur Auferstehung (Johannes zu Eltz), über Emmaus (Klaus Mertes) und Worte zum 23. Psalm (Patrick Roth) weisen über Jesu Grablegung (Maura Zátony) hinaus und verbreiten Hoffnung. Klaus Mertes formuliert es so: Nach der Begegnung mit Jesus können die Emmausjünger „hören und glauben. Andere Geschichten als die, die Angst verstärken. Corona hat nicht das letzte Wort.“ Trotz Kritik an den Mächtigen der Welt hofft Johannes zu Eltz weiter: „Wir werden mit den Seuchen im global village wahrscheinlich nicht fertig werden. Trotzdem müssen wir sie eindämmen, kleinkriegen und niederringen, so gut wir nur können. Wozu das gut ist, weiß jeder Mensch. Warum das gutgehen wird, weiß unser Glaube.“ Dass über Covid-19 andere Notstände nicht vergessen werden, das mahnt die Bildungsreferentin Ingrid Wegerhoff an.
Die Benediktinerin Makrina Finlay überlegt in ihrer berührenden Meditation „Jesus begegnet seiner Mutter“, was Maria empfand, als Jesus mit dem Kreuz auf sie zukam: „Beide mussten es aushalten, einander zu begegnen und doch entfernt voneinander zu bleiben – im Vertrauen, dass die Herzen sich begegnen.“ Und sie fragt: „Können wir durch das Kreuz hindurch auch sehen, dass Jesus da ist und leben wird? Können wir auch Gottes heilsame Nähe in der Mitte des Unheils erkennen, selbst wenn wir ihn nicht anfassen können?“ So ist der Benediktinerabt Johannes Schaber überzeugt: Das Kreuz ist nicht nur ein Symbol für die Lebenslast, sondern auch für die Hoffnung auf Gott. Ihn bestärkt der Zisterzienser Hieronymus Weißbäcker: Jesu Kreuz „wird unser gezeichnetes Leben zusammenfügen und heilen“. Heilung und Erlösung erfahren die, die ihr Leiden in das Leiden Jesu legen (Jeremia Marianne Kraus). Die Trauer der weinenden Frauen beschäftigt die Theologin Clara-Elisabeth Vasseur, die ihre Leser mit der Frage herausfordert, ob „die Verheißung eines neuen Lebens und einer lebendigen Hoffnung uns nur von jenen authentisch verkündet werden kann, die selbst Leid und Trauer erfahren haben…“.
Religion und Gebet seien Versuche, so der Benediktiner Elmar Salmann, „dem Leben Fassung zu geben – damit der Mensch nicht die Fassung verliere“. Denn in Jesus, dem Verlassenen, komme Gott dem Menschen in seiner Verlassenheit ganz nah, begründet die Benediktinerin Margareta Gruber ihr Vertrauen. Jesus vertrauen verlangt auch, „Ungewissheit und Ohnmacht im Leben zu ertragen“ (Julia Knop). Wer Leidenden hilft, wie es Simon von Kyrene (Susanne Nordhofen; Thomas Brose) und Veronika (Eckhard Nordhofen) taten, lässt Gott strahlen. In dem Augenblick tritt die Frage „Warum“ zugunsten des „Wie“ zurück.
Alle Meditationen des Bandes zeigen Menschen, die wie Jesus ihr Kreuz tragen. Daher sollte der Buchtitel eher „Auf dem Weg mit dem Kreuz“ lauten. Das Kreuz ist eine – oft schwer annehmbare – Antwort auf die Frage nach dem Leid in der Welt. Jesus hat die Not nicht beseitigt, aber er leidet täglich mit. Warum das so ist – diese Frage kann der Mensch zu Lebzeiten nur aushalten und auf eine erlösende Antwort in der Ewigkeit hoffen.