Damals sprach Salomo über dieses Haus, als er es zu bauen vollendet hatte: Der Herr (JHWH) hat die Sonne am Himmel wissen lassen und gesagt, er wolle im Dunkeln wohnen. Baue mein Haus, ein erhabenes Haus für dich, um (darin immer wieder) von Neuem zu thronen. (3 Kön 8,53a, gemäß der Septuaginta. Diese Textstelle der griechischen Übersetzung des Alten Testaments wäre in der hebräischen Überlieferung am Ende des Weihegebets, nach 1 Kön 8,53, einzuordnen, fehlt dort aber. In der Septuaginta werden die Samuel- und die Königsbücher als Bücher der Königtümer von 1 bis 4 durchgezählt.)
Was seinem Vater David noch verwehrt wurde, setzt sein Sohn Salomo in die Tat um: Er baut in Jerusalem einen Tempel für JHWH. Schaut man sich die einschlägigen Texte genauer an, so lassen sie erkennen, dass der Tempelbau Salomos eine theologisch brisante Angelegenheit war. Eine Reihe religionswissenschaftlicher Beobachtungen deutet darauf hin, dass in Jerusalem, der Stadt des Gottes Schalem, von alters her der Sonnengott als Hauptgott verehrt wurde (siehe Folge 15, CIG Nr. 39, S. 427). Wahrscheinlich war ihm ein Freilicht-Heiligtum geweiht. Es gibt aus der Antike einige Beispiele dafür, dass Sonnengottheiten unter offenem Himmel verehrt wurden.
Mit der friedlichen Einnahme der Stadt durch David zieht aus dem Süden ein neuer Gott in die städtische Gesellschaft ein. Seine Verehrer bringen ihn vor allem mit Sturm und Vulkan in Verbindung. Sein Name ist JHWH. Wahrscheinlich ließ David das Sonnenheiligtum der Jebusiter unangetastet (vgl. 2 Sam 12,20).
Dass die JHWH-Religion in Jerusalem auf kanaanäisch-jebusitische Traditionen zurückgriff, zeigt die eigenartige Notiz über die Errichtung eines JHWH-Altars auf der Tenne des Jebusiters Arauna. Damals sagte der Prophet Gad zu David: „Geh hinauf und errichte dem HERRN auf der Tenne des Jebusiters Arauna einen Altar!“ (2 Sam 24,18) David kaufte die Tenne, baute dort einen Altar für den HERRN und brachte Brandopfer und Heilsopfer dar. So konnte der Zorn des HERRN besänftigt und eine schwere Epidemie beendet werden, an der bereits siebentausend Personen im Volk gestorben waren (2 Sam 24,15). Das zentrale Kultsymbol des JHWH-Glaubens, die Lade, ließ David nach Jerusalem überführen und in einem Zelt abstellen (2 Sam 6,17).
So dürften zur Zeit Davids die beiden religiösen Traditionen der Stadt an zwei Orten relativ unverbunden nebeneinandergestanden haben: der alteingesessene Kult der Jerusalemer mit dem Sonnengott auf der einen und der mit David und seinen Leuten neu hinzugekommene JHWH-Kult aus der Steppe auf der anderen Seite.
Davids Sohn Salomo geht nun einen bedeutenden Schritt weiter. Die älteste Fassung des Tempelweihspruchs ist uns sehr wahrscheinlich nicht in der hebräischen, sondern in der griechischen Fassung des Alten Testaments überliefert. Die Septuaginta beruht an dieser Stelle auf einem älteren hebräischen Text, der in der späteren Überlieferung ein wenig retuschiert wurde. In diesem älteren, ursprünglichen Text äußert JHWH gegenüber der Sonne den Wunsch, er wolle im Dunkeln wohnen. Wörtlich übersetzt lautet der griechische Text: „Der Herr (kyrios/JHWH) hat die Sonne am Himmel wissen lassen; er hat gesagt, er wolle im Dunkeln wohnen.“
Vor diesem Hintergrund ist der Tempelbau Salomos sehr wahrscheinlich so zu verstehen, dass dem Sonnengott auf dem offenen, ihm geweihten Kultplatz ein Tempel gebaut wurde, in dem dieser dem Gott JHWH eine Mitbewohnerschaft anbot. Der Sonnengott beauftragt Salomo: „Baue mein Haus, ein erhabenes Haus für dich.“ Der Tempel war also – in gut altorientalischer Tradition – sowohl ein Haus der jeweiligen Gottheit („mein Haus“), in diesem Fall der Sonne, als auch ein Haus des Königs („ein erhabenes Haus für dich“).
Warum beauftragt der Sonnengott den König, ihm ein Haus zu bauen? Weil der Herr (JHWH) der Sonne gegenüber den Wunsch geäußert hat, er wolle im Dunkeln wohnen. Mit diesem Weihespruch wird eine Art von Wohngemeinschaft zwischen dem Sonnengott und JHWH legitimiert. Der Sonnengott greift also eine Bitte JHWHs auf und beauftragt den König, einen Tempel zu bauen, in dem beide wohnen können.
Ludger Schwienhorst-Schönberger