Ich bin nicht von der allerdings schon schwer sinkenden Hand des Christentums ins Leben geführt worden wie Kierkegaard und habe nicht den letzten Zipfel des davonfliegenden jüdischen Gebetsmantels noch gefangen wie die Zionisten. Ich bin Ende oder Anfang.“ Diese Selbstauskunft Franz Kafkas lässt ahnen, warum die vorliegende Sammlung von 109 unterschiedlich langen, äußerst verdichteten Aufzeichnungen auch nach hundert Jahren so rätselhaft inspirativ und herausfordernd wirkt. Schärfste Reflexion, kristalline Spracharbeit und „kafkaeske“ Bildkraft verrätseln die Merksätze und geben ihnen ein unerschöpfliches Sinnpotential, immer wieder zu lesen und zu meditieren.
Das hat mit ihrem Sitz im Leben zu tun: Mitte August 1917 war Kafkas Tuberkulose ausgebrochen. Das bedeutete Klärung bedrängender Lebenskonflikte und nicht zuletzt deren „Bewältigung“ durch neue literarische Formen. „Was ich zu tun habe, kann ich nur allein tun. Über die letzten Dinge klar werden.“ So schreibt Kafka an seinen Freund Max Brod. In den acht Monaten auf dem böhmischen Land entstehen die meisten dieser 109 Schlüsselsätze und Schlüsseltexte, aber noch über Jahre arbeitet er verdichtend weiter an ihnen. „Du bist die Aufgabe. Kein Schüler weit und breit!“
Vom Bösen ist viel die Rede, vom Unzerstörbaren im Menschen und zwischen ihnen. Biblische Bilder wie Paradies, Sündenfall, Gericht spielen eine große Rolle, nicht zufällig kommt oft die Metaphorik des Kampfes vor. Spürbar ist nach eigener Auskunft Kafkas die „Sehnsucht nach dem radikal Anderen“, aber mit Recht warnt Reiner Stach in seiner glänzenden Werkerschließung davor, diese Aufzeichnungen religiös zu vereinnahmen. Freilich kann man sich ihrer existenziellen Wucht genauso wenig entziehen wie ihrer sprachlichen Diktion. Nicht zuletzt das macht diesen Band zu einem großen Dokument intellektueller wie spiritueller Redlichkeit und Reinigung.