Von seiner Grundausrichtung her war der von Salomo erbaute Tempel ursprünglich wohl ein Sonnenheiligtum. Die älteste Fassung des Tempelweihspruchs (siehe vorangehende Folge 25) verbindet drei Größen miteinander: den Sonnengott, seinen Mitbewohner JHWH und König Salomo. Der Auftrag zum Bau des Tempels ging vom Sonnengott aus. Ihm dürfte auch der Kultbezirk gehört haben, auf dem das Haus errichtet wurde. Wie teilen sich nun die beiden Gottheiten die Räume im Tempel auf?
Der Salomonische Tempel war ein sogenannter Langraumtempel, bestehend aus drei Räumen: einer Vorhalle, einem Hauptraum und dem Allerheiligsten. Mit gut dreißig Metern Länge war er, verglichen mit den uns bekannten Tempeln aus damaliger Zeit, ein sehr großes Heiligtum. Im Unterschied zu einem Breitraumtempel, bei dem der Kultgegenstand von den außenstehenden Personen gesehen werden konnte, betont der Langraumtempel die Distanz zwischen der Gottheit und ihren Verehrern. Es ist ein langer Weg von der Vorhalle über den Hauptraum bis zum Allerheiligsten, dem sich nur die Priester nahen durften. Tief verborgen wohnt die Gottheit in der Dunkelheit des Raumes. „Kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben“, lässt JHWH Mose am Sinai wissen (Ex 33,20). Der Tempel war keine Versammlungsstätte für die Gläubigen, so wie es heute bei den Kirchengebäuden der Fall ist, sondern der Wohnort Gottes. „Ich werde inmitten der Israeliten wohnen und mein Volk nicht verlassen“, gibt JHWH Salomo nach Abschluss des Tempelbaus zu verstehen (1 Kön 6,13). Entsprechend gehörte zum Jerusalemer Tempel die Grundausstattung eines Wohnhauses: Stuhl (Thron), Tisch, Leuchter und Räucheraltar.
Im Allerheiligsten standen parallel nebeneinander zwei Keruben mit ausgebreiteten Flügeln. Keruben sind Mischwesen, gewöhnlich bestehend aus einem Menschengesicht, einem Löwen- oder Stierleib und kräftigen Flügeln. Sie sind in der altorientalischen Welt verbreitet, strahlen Kraft und Aggressivität aus und dienen ihren Besitzern als Wächter und Beschützer. Die inneren, ausgebreiteten Flügel der Keruben im Allerheiligsten berührten einander und bildeten eine waagerechte Linie, die eine Sitzfläche abgab, die man sich als Thron vorzustellen hat. Die äußeren Flügel waren wahrscheinlich hochgestellt und ragten weit in den Raum hinein.
Wer saß auf diesem Thron? Darüber sagt der biblische Text nichts. Einige Forscher gehen davon aus, dass man sich hier eine Gottesstatue vorzustellen habe, die den im Tempel thronenden Gott vergegenwärtigte, wie es in den Heiligtümern der damaligen Welt gewöhnlich der Fall war. Da dies jedoch in späterer Zeit aufgrund des Bilderverbotes („Du sollst dir kein Kultbild machen!“, Ex 20,4) anstößig geworden sei, habe man diesen Sachverhalt in den einschlägigen Texten verschwiegen. Eine solche Vermutung steht jedoch auf schwachen Füßen. Zunächst einmal ist zu fragen, für welche Gottheit denn überhaupt der Thron gedacht war. Erneut gibt uns die griechische Übersetzung des Alten Testaments einen Wink. Denn sie weiß davon zu berichten, dass dem Langraumtempel ein Seitenraum hinzugefügt und dass in ihm die „Lade des Bundes des Herrn“ aufgestellt wurde (1 Kön 6,16–19). Damit ergibt sich folgende Konstellation: Der von Salomo erbaute Tempel war ein Sonnenheiligtum. Der Kerubenthron war der Thron des Sonnengottes. Es gibt in der altorientalischen Ikonographie eine Reihe von Beispielen dafür, dass der Thron des Sonnengottes leer bleiben konnte. Manchmal schwebte über ihm eine geflügelte Sonnenscheibe.
Demnach beherbergte der Salomonische Tempel in seiner ältesten Ausstattung zwei Kultsymbole: den leeren Kerubenthron für den Sonnengott im Allerheiligsten und die Lade, die in einer Seitenkapelle JHWH repräsentierte. Die weitere Geschichte des Jerusalemer Tempels wird zeigen, wie diese beiden Gottheiten zu einer einzigen wurden: Die Lade wurde zu einem späteren Zeitpunkt unter den Kerubenthron gestellt und als Schemel des Gottes JHWH verstanden, der unsichtbar „auf den Kerubim thront“ (Ps 99,1).